"The stories we tell about who we are and what we did
shape what we can and will do"
Rebecca Solnit
Wenn du in einem Kriegsgebiet lebst, lernst du viele Dinge: Was die beste Position ist, um eine Handgranate zu überleben, wie sich die Detonation einer Bombe unterscheidet vom Einschlag einer Rakete oder dem Geschoss aus einer Panzerfaust. Du lernst, mit Helikoptern zu leben, die wenige Meter über deinem Haus entlang. Du lernst, dass du auch ohne Strom leben kannst, jedenfalls für einige Zeit, ohne Licht und ohne fließendes Wasser. Du lernst, wie du dich verhalten solltest, falls du entführt wirst (keinen Widerstand leisten, deine menschlichste Seite zeigen, gerade am Anfang nicht versuchen, abzuhauen – auch für die Entführer ist der Moment der Entführung eine stressige Situation) und was du tun solltest, damit du gar nicht erst entführt wirst (jeden Tag andere Wege fahren, zu anderen Uhrzeiten, möglichst in verschiedenen Autos, wenig auffallen und überhaupt: Unberechenbar bleiben).
Du lernst, dass der Preis für Tomaten und alle anderen Lebensmittel sich von einem Tag auf den anderen verdoppeln kann – oder dass es manche Güter vorübergehend gar nicht mehr zu kaufen gibt, weil die Grenze nach Pakistan gerade dicht ist oder Usbekistan jeglichen Handel eingestellt hat, um politisch Druck auszuüben. Du lernst, dich jeden Tag mehrfach zu verabschieden als wäre es das letzte Mal. Du lernst, dass weder Terror noch Tod sich ankündigen und selbst der schönste Moment in ein paar Sekunden zum schlimmsten werden kann. Du lernst, dass du auf nichts davon Einfluss hast, dass du die Welt nicht verändern kannst, dass nur weil etwas ungerecht ist, es nicht heißt, dass es nicht passiert oder: dass du es stoppen kannst.
Du lernst, dass du völlig ohnmächtig daneben stehst, wenn Freundinnen und Freunde um ihr Leben fürchten, dass du nichts aber auch gar nichts tun kannst, was hilft, außer zuhören und vielleicht einfach: da sein. Du lernst, dass in so einer Situation Familie wichtig ist, Freundschaften, Routinen, und immer wieder Ruhe: Momente, in denen du die Welt aussperrst, weil sie dir zu brutal vorkommt, zu unglaublich, zu unverständlich, zu ungerecht.
Und eine Sache lernst du, die über allem steht. Die du schon tausend Mal gehört hattest und trotzdem niemals wirklich in ihrer Tiefer verstanden hast. Eine Sache, die du nun, umgeben von Elend und Leid, mit ganzem Herzen begreifst und die ab jetzt dein Leben von Grund auf verändern wird. Ein kurzer, simpler Satz, den wir alle schon einmal gehört haben:
Die Zukunft ist unberechenbar. Ich möchte das nochmal wiederholen: Die Zukunft ist unberechenbar, und zwar vollkommen.
Du weißt nicht, ob du studieren sollst, weil du nicht weißt, ob der Staat, in dem du lebst, am Ende deines Studiums noch so existiert, wie du ihn jetzt kennst. Du weißt nicht, ob du ein Geschäft aufbauen sollst, weil du nicht weißt, ob in fünf Jahren nicht ein ganzer Haufen Leute das Land verlassen haben wird und die die dageblieben sind, überhaupt noch Geld haben werden, um sich irgendetwas zu kaufen, das über das Überleben hinaus geht. Du weißt nicht, ob du Kinder bekommen sollst, weil du nicht weißt, ob dein Land in fünf Jahren eines ist, das du einem Kind zumuten willst. Du weißt nicht, ob du dein Gehalt nächsten Monat bekommst, selbst dann, wenn du einen sicheren und angesehen Job hast, sagen wir Lehrerin oder Ärztin, und du vom Staat bezahlt wirst. Du weißt nicht, ob du morgen, oder übermorgen oder überübermorgen noch leben wirst, oder ob nicht längst eine Bombe deinen Körper zerrissen haben wird.
Egal, wie viel du über die Zukunft nachdenkst, egal, wie viel du gelernt hast, egal wie viele Texte du gelesen oder geschrieben hast, egal wie viele Zahlen du dir in deinem Kopf zurecht gelegt hast, egal, wie viele Szenarien: Am Ende macht die Zukunft, was sie will. Und deine Pläne? Sind ihr vollkommen egal.
Von allen Dingen, die Kabul, seine BewohnerInnen und das Leben dort mir beigebracht haben, ist es das, was ich verinnerlicht habe: In unsicheren Zeiten ist es komplett unmöglich, eine Zukunft auch nur ungefähr vorauszusagen. Wie aufrichtig du es auch versuchst, du kannst daran nur scheitern.
Als ich 2015 zurück nach Deutschland zog, wusste ich, dass ich eine Lektion gelernt hatte, die von jetzt an mein Leben prägen und verändern würde – auch wenn mir das Ausmaß dieser Veränderungen noch nicht klar war. Was ich nicht wusste: dass schon wenige Jahre später ganz Deutschland, ganz Europa, ja die ganze Welt, sich mit dieser Tatsache konfrontiert sehen würde – und zwar auf ähnlich existenzielle und drastische Weise, wie ich es damals in Kabul erlebt habe.
„Wir befinden uns im Krieg“, hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Mitte März diesen Jahres gesagt. Auch wenn ich den Vergleich in vielerlei Hinsicht fragwürdig, falsch und wenig hilfreich finde, in einer Sache trifft er den Punkt. Wir alle erleben gerade die Unsicherheit, die ein Krieg mit sich bringt: dass die Zeit eine ihrer Dimensionen verloren hat; dass Zukunft plötzlich nicht mehr planbar ist.
Und das macht Angst. Denn unser Gehirn versucht das eigentlich die ganze Zeit: Vorhersagen über die Zukunft zu machen. Um uns am Leben zu halten, versucht es auf zurückliegende Erfahrungen zurückzugreifen und daraus abzuleiten, was uns demnächst erwartet. All unsere Gewohnheiten, Laster, Verhaltensweisen sind auf diesen Vorhersagen begründet. Das Problem ist. Für unsere momentane Situation fehlt es uns an Erfahrungen. Wir alle haben noch nie eine weltweite Epidemie erlebt, als Einzelpersonen nicht, als Gesellschaft nicht, als Weltgemeinschaft nicht. Selbst die profiliertesten ForscherInnen können momentan nur schätzen, was uns in nächster Zeit bevorstehen wird und vor allem: wie lange uns das alles bevorstehen wird. Das Gleiche gilt für die Maßnahmen, die getroffen werden, um die Pandemie zu bremsen. Auch die haben wir noch nie erlebt. Auch hier weiß unser Gehirn nicht, was es vorhersagen soll – egal wie sehr und wie oft es das immer wieder versucht.
Natürlich haben wir also Angst! Es ist eine automatische Reaktion, die evolutionstechnisch absolut Sinn ergibt. Leider ist Angst so ziemlich das letzte, was uns momentan weiterhilft. Jedenfalls, wenn wir sie den Weg bestimmen lassen, wenn wir ihr erlauben, dass sie voranprescht und wir nur blind folgen, wenn wir sie zu unserem Kompass machen und all unser Handeln darauf abstimmen.
Dieses Buch ist der Versuch, einen anderen Kompass zu finden, für unseren Weg in eine ungewisse Zukunft. Was ich, Stand jetzt, über diese Zukunft, denke?
Ich mache mir Sorgen, große Sorgen, egal wie oft ich mir sage, dass das nichts bringt. Aber ich erlaube mir auch, zu hoffen. Selbst wenn das unrealistisch, unmöglich oder sogar naiv erscheint: Ich glaube fest daran, und ich habe es erlebt, dass in Zeiten des Chaos positiver Wandel möglich ist.
Ich bin also: besorgt und hoffnungsvoll. Und das einzige, bei dem ich mir sicher bin, ist, dass die Art, wie wir mit uns und unseren Mitmenschen umgehen, darüber bestimmen wird, welche Zukunft am Ende dieser Krise auf uns wartet.
„Wie kalkulierst du mit dem Unvorhergesehenen? Es scheint eine Kunst für sich, die Rolle des Unvorhergesehenen zu erkennen, deine Balance zu halten zwischen lauter Überraschungen, mit dem Zufall zusammenzuarbeiten statt gegen ihn, zu erkennen, dass es einige grundlegende Mysterien in dieser Welt gibt und damit eine Grenze für Kalkulation, Planung und Kontrolle. Das Unvorhergesehene zu berechnen ist vielleicht genau die paradoxe Aufgabe, die das Leben am meisten von uns verlangt.“ (Original: How do you calculate upon the unforeseen? It seems to be an art of recognizing the role of the unforeseen, of keeping your balance amid surprises, of collaborating with chance, of recognizing that there are some essential mysteries in the world and thereby a limit to calculation, to plan, to control. To calculate on the unforeseen is perhaps exactly the paradoxical operation that life most requires of us.“ // Rebecca Solnit, A Field Guide to Getting Lost, p. 5/6)
In Kabul habe ich gelernt, mitten im Krieg, konfrontiert mit Armut, Tod, Gewalt und einer gewaltigen Ohnmacht, die dem allen gegenüberstand, Mut zu suchen und zu finden. Dieses Buch ist der Versuch, etwas davon weiterzugeben. Denn Mut, so ist meine Erfahrung breitet sich aus, wird stabiler und stärker und verlässlicher, wenn er auf mehreren Schultern sitzt. Mut ist ansteckend.
Ich sage nicht, dass das Chaos gerade nicht schlimm ist. Schon jetzt übersteigt es beizeiten meinen Verstand und ich bin sicher, dass wir uns die brutalsten Auswirkungen noch nicht einmal ausmalen können. Ich denke nicht: Zum Glück gibt es dieses Virus, wir brauchen diese Chance, um unsere Gesellschaft zu ändern. Auf keinen Fall denke ich das. Wenn wir eine Wahl hätten, würde ich, immer, dafür entscheiden, dass Covid-19 erst gar nicht ausgebrochen wäre. Nur: wir haben keine Wahl. Das Virus interessiert es nicht, was wir über es denken. Es ist schon da, und egal wie erfolgreich wir seine Verbreitung verlangsamen werden, die Folgen seiner Anwesenheit werden katastrophal sein. Ein echtes „Normal“, im Sinne von „so wie früher“ wird es nie mehr geben, davon bin ich überzeugt. Wir werden lernen müssen, mit dieser Tatsache zu leben.
Davon soll dieses Buch handeln: Wie wir mit der Katastrophe umgehen können, so dass sie uns nicht bricht, sondern stärker macht, auch wenn der Preis, den wir dafür bezahlen, unvorstellbar hoch sein wird. Ich bin überzeugt, dass wir an dem, was gerade passiert und an allem, was noch kommt, wachsen können: als Familien, als Nachbarschaften, als Freunde, als Gesellschaft, ja sogar: als Planet.
Wenn das Leben im Hier und Jetzt stattfindet und auf das Nötigste reduziert ist, zeigt sich, nach welchen Werten wir uns sehnen und wer wir wirklich sein wollen.
Versuchen wir für einen Moment, unsere Situation als eine Entdeckungsreise zu begreifen. Wir wissen nicht, wie lange sie dauern und wohin sie uns führen wird. An manchen Tagen glauben wir Land am Ende des Horizonts zu sehen, an anderen Tagen verschwimmt alles im Nebel und wir erkennen nicht mal mehr das, was direkt vor unseren Augen passiert. Das Einzige, was wir momentan wissen, ist dass am Ende dieser Reise, wann immer das sein wird, etwas völlig Neues auf uns warten wird. Wir sind zu AbenteurerInnen geworden, ohne dass uns jemand gefragt hat, ob wir überhaupt Lust dazu haben.
Wir haben Angst, wir sind verwirrt, wir sind ohnmächtig, wir haben keine Kontrolle, wir wissen nicht, was da auf uns zukommt. Was also können wir tun, wenn unsere Welt größer geworden ist als unser Wissen über sie?
Auch ich habe keine fertige Antworten, keine Lösungen, kein Wundermittel. Zukunft ist vollkommen unberechenbar. Was ich habe, sind Fragen. Und ein vages Gefühl, dass es irgendwo zwischen dem Chaos um uns herum etwas zu entdecken gibt, für das es sich lohnt zu kämpfen und das uns, so verrückt das auch klingt, am Ende bereichern wird.
In Kabul habe ich einmal eine Frau interviewt, Laurence Levasseur, sie kommt aus Frankreich, war früher Primaballerina, dann Choreografin und hat in Kabul zehn Jahre lang das französische Kulturinstitut geleitet. 2014 gab es dort bei einer Theaterpremiere einen Anschlag. Das Stück handelte von Selbstmordanschlägen und was sie mit den Menschen anrichten, die überleben – und m Publikum saß ein 16 jahre alter Junge, der sich in die Luft sprengte, kurz bevor das Stück eine positive, hoffnungsvolle Wendung nehmen sollte. Zwei Menschen starben, mehr als vierzig wurden verletzt. Manche der ZuschauerInnen klatschten im Moment der Explosin, weil sie die Bombe für einen Teil der Inszenierung hielten.
Mein Partner und ich haben die Geschichte in unserem Dokumentarfilm „True Warriors“ erzählt, und in einem Podcast „Gegen die Angst“. Dafür war das Interview mit Laurence Levasseur.
Bevor Laurence Levasseur nach Kabul gekommen ist und Chefin des IFA wurde, lebte sie in Frankreich. Igendwann bekam sie einen Anruf vom Kulturattaché der französischen Botschaft in Usbekistan. Er wollte sie als Kollegin gewinnen, für die “STAN-Staaten”. Kulturattaché in Usbekistan, zuständig auch für Afghanistan? Zuerst hat Laurence gedacht, ein Freund würde sie verarschen. Kurz darauf reiste sie zum ersten Mal nach Kabul.
„Als ich zuerst hier ankam, war ich nicht sicher, ob ich überhaupt etwas bewirken kann. Also habe ich einen Workshop angeboten, für Schauspieler. Ich hab mir gesagt: Wenn du Körpertheater machen kannst in diesem Land, trotz des Krieges, dann heißt das, du kannst hier etwas aufbauen. Die Schauspieler kamen aus allen Provinzen und ich habe gesagt: “Hört zu, ich bin eine Frau, ich werde mich nicht verstecken. Ihr könnt zuschauen oder mitmachen”.
Als erstes fiel mir auf, wie furchtbar verspannt all ihre Körper waren. Zum Auflockern habe ich gesagt: “Okay, lasst uns eine Übung machen: Ihr stellt euch in zwei Gruppen gegenüber. Und dann spielt ihr mir vor, wie ihr euch auf der Straße begrüßt.” Ziemlich easy, dachte ich. Dann sind die ersten beiden aufeinander zugelaufen, und als sie sich trafen, haben sie beide mit ihren Fingern eine Pistole geformt – sie haben sich gegenseitig erschossen! “Okay klar, so kann man das auch machen”, habe ich gesagt und schnell die nächsten aufgerufen. Äußerlich habe ich gelacht. Aber meine Seele hat geweint in diesem Moment.
Also habe ich sie gebeten, die exakt selbe Bewegung nochmal zu machen – nur irgendwas sollte anders sein: Die Bewegung sollte langsamer sein, oder größer. Und Schritt für Schritt haben sie es geschafft, diese Bewegungen zu verändern. Ich glaube, in dem Moment haben sie verstanden, wie man mit dem Körper etwas ausdrückt, ohne Sprache – und das war der Anfang: Ich wusste, wenn wir diesen Schritt an einem Tag schaffen, dann können wir hier arbeiten. Und sie hatten alle etwas zu sagen. Nach fünf Stunden wusste ich, was wir in diesem Land bewegen könnten.“
Laurence Levasseur lebt seit 2007 in Kabul. Sie hat erlebt, wie sich die Stadt verändert hat. Anfangs hat sie noch in einem privaten Haus in der Innenstadt gewohnt. Sie konnte zur Arbeit spazieren, im “Le Bistro”, einem französischen Restaurant, Croissants frühstücken und an ihren freien Tagen spazieren gehen. Von Jahr zu Jahr sind mehr Anschläge passiert. Irgendwann musste sie in den bewachten Compound der französischen Botschaft umziehen, hinter Sprengschutzmauern. Sie darf sich jetzt nur noch im gepanzerten Auto bewegen, mit Schutzweste, an ausgewählte Orte.
Das französische Kulturzentrum ist einer der wenigen Orte, an denen Laurence Levasseur durchatmen kann. “Man konnte sich dort fühlen wie auf einer Insel”, sagt sie. Es gibt zwar Einlasskontrollen, Body Checks und einen Metalldeketor – aber kaum Sprengschutzwände, und wenig sichtbare Waffen. Stattdessen: einen riesigen Garten voller Bäume, ein lichtdurchflutetes, modernes Foyer mit hohen weißen Wänden, und einen Miniatur-Eiffelturm, der vor dem Eingang steht. Noch dazu ist das Gelände so weitläufig, dass man die Sicherheitsvorkehrungen nicht ständig vor Augen hatte.
Der Anschlag im Kulturzentrum war nicht der erste, den Laurence Levasseur erlebt hat. Und auch vor ihrer Zeit in Kabul hat sie brutale Verluste erlebt. Man könnte sagen: Laurence Levasseur ist eine Expertin für Schmerz.
Im Interview sagte sie mir, dass sie glaubt, dass man seinen Schmerz benutzen und verändern kann, zu etwas, das einen stark macht. Dass du alles Schlechte, was dir im Leben passiert ist, nehmen und etwas Gutes daraus machen kannst. Sie erzählte von ihrer Großmutter, die immer gesagt hat: Das Leben weiß mehr als du. Wenn du nicht weiter weißt, lass dir vom Leben sagen, was zu tun ist. Laurence sagt “she” wenn sie vom Leben spricht, und es ist kein Versehen.
Als ich sie fragte, warum sie in Afghanistan arbeitet, sagte sie: Dieses Land bringt mich dazu, mein Bestes zu geben. Mein Bestes in Freundschaften, mein Bestes bei der Arbeit, mein Bestes an Kreativität, mein Bestes im Lösungen finden, wenn alles danach aussieht, als könnte es unmöglich klappen. Ich mag diese Herausforderung. Sie hält mich wach.
“Ich denke, du musst deinen Schmerz akzeptieren. Akzeptiere ihn. Fokussiere dich. Und geh weiter, um was anderes zu machen. Mach weiter. Wenn du Schmerz wie eine Wand betrachtest, wirst du nie etwas schaffen. Wenn du Schmerz als Teil deines Weges ansiehst, dann wirst du daran wachsen und ihn in etwas Gutes verwandeln können.“
Mit anderen Worten: die ganze Scheiße, die dir passiert ist – du musst irgendwie versuchen, sie zu akzeptieren. Sonst steckst du fest, vielleicht für immer.
Nehmen wir den Schmerz also an! Das Chaos, das jetzt schon unser Leben aufwühlt, die Brutalität, die wir erwarten, unserer Angst vor dem, was kommt. Nehmen wir das an, und machen etwas draus. Auch wenn der Preis, den wir bezahlten müssen, verdammt hoch ist – das hier ist unsere Chance, über uns hinaus zu wachsen, zu zeigen, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Natürlich können wir das Virus nicht stoppen, natürlich können wir keine doppelten Kapazitäten in unser Gesundheitssystem zaubern, die allermeisten von uns sind nicht in der Lage, einen Impfstoff zu finden, und selbst das, was sonst immer hilft, funktioniert gerade nicht: eine Umarmung, zusammensitzen, schweigen und einfach nur durch Nähe zeigen: Ich bin da, du bist nicht allein. Wir müssen also neue Wege finden. Das ist brutal, weil wir eigentlich schon damit überdordert sind, überhaupt irgendwie klarzukommen, aber es ist auch eine Chance. Wir müssen neue Wege finden. Und neue Wege können aufregend sein, sie können uns zeigen, was in uns steckt, was uns alle verbindet.
Je besser wir verstehen, welche positiven Folgen diese Krise in sich birgt, desto mehr können wir dazu beitragen, dass diese Veränderungen wachsen, sich ausbreiten und Stück für Stück zu einer gerechteren Zukunft beitragen.
In Kabul, mitten im Krieg, habe ich gelernt Geschichten zu finden, die Mut machen. Mein Job ist es, aus Scheiße Gold zu machen, habe ich vor ein paar Jahren mal im Spaß gesagt, und es doch irgendwie gemeint. Denn das ist meine Erfahrung: Selbst in den schlimmsten Umständen, vielleicht sogar genau in den schlimmsten Umständen entdecken wir Schätze in uns, sie sind tief vergraben, aber wenn wir sie erst einmal ausgebuddelt haben, werden sie uns unser ganzes Leben lang begleiten.
Als ich Laurence Levasseur gefragt habe, was in den Tagen nach dem Attentat ihre Gedanken waren, sagte sie: „Oh hätte ich doch dies gemacht, hätte ich doch das... Du weißt nicht mal, was noch. Hätte. Ich. Doch. Punkt Punkt Punkt. Und es gibt eine Millionenen Punkte. Aber gleichzeitig gibt es auch eine andere Stimme, die dir sagt: Es ist passiert. Die Frage ist: Wie gehst du jetzt damit um? Wie lebst du damit? Denn: es wird nicht weggehen. Es ist schon in deinen Knochen eingeritzt. Also: Wie lebst du damit? Wie wächst du daran? Wie hilfst du den Leuten um dich herum?“
Meine Erfahrung ist: Wenn wir beginnen, an uns zu glauben und uns gegenseitig zu helfen, dann werden wir unaufhaltsam. Die Revolution der tausend kleinen Schneebälle, habe ich es einmal genannt. Und meinte damit: Was wir anderen geben, breitet sich aus. Mut, Freundlichkeit, Zusammenhalt, Friedfertigkeit, Mitgefühl, Liebe – das alles breitet sich aus, wird stabiler, stärker und verlässlicher, je mehr wir es teilen. Nutzen wir diese unsichere, verwirrende Zeit. Graben wir unsere Schätze aus! Zeigen wir, was in uns steckt!
In dem Buch, das nun vor uns liegt – vor Ihnen, um gelesen zu werden, vor mir, um geschrieben zu werden, will ich der Frage nachgehen, wie wir einen Weg aus der Krise finden, der uns bereichert statt uns ohnmächtig in die Knie zu zwingen. So wie wir den Frieden studieren müssen, um Kriege zu beenden, müssen wir jetzt verstehen lernen, wie positiver Wandel durch Krisen möglich ist. Noch kenne ich diesen Weg genauso wenig wie Sie, aber ich bin sicher: zusammen finden wir ihn. Zusammen können wir ihn gehen.
Es ist wie mit der Maus Frederick, aus dem Kinderbuch von Leo Lionni, die im Sommer Farben, Muster, Gerüche und Geräusche sammelt, und im Winter, wenn alle Mäuse im grauen, kalten, stillen Bau sitzen und Hunger haben, davon erzählt. Wir alle haben gesammelt wie Frederick, auch wenn uns das vielleicht nicht so bewusst war. Auch wenn wir vielleicht etwas danach suchen und buddeln müssen, bis wir unsere Schätze gefunden haben – jetzt ist die Zeit, zu teilen. Verlagern wir die Nähe, die wir uns sonst durch körperliche Anwesenheit geben, in unsere Herzen. Lassen wir sie strahlen. Mein Verdacht ist: Wir werden überrascht sein, wie weit die Wärme reicht.
Es wird bei dieser Geschichte kein Happy End geben, wir werden nicht sagen: Wie gut, dass es passiert ist – jedenfalls glaube ich das nicht. Ich glaube, wir werden den Virus und das Chaos, das er gebracht hat, noch jahrelang verfluchen, vielleicht sogar jahrzehntelang. Und vielleicht werden wir ein Leben lang brauchen, um wirklich zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Es wird diesmal nicht alles gut werden. Leider. Aber manches, das wird gut werden – und wir haben in der Hand, wie viel.
Ich habe so eine Vorstellung in meinem Kopf, dass wir irgendwann, wenn das alles vorbei ist, zusammensitzen werden, uns in die Augen schauen und offenen Herzens sagen werden: Ja, es war schrecklich. Wir waren überfordert, wir hatten Angst, wir wussten nicht, wie noch weiter. Und trotzdem, wir haben sie genutzt, die grausamen Erfahrungen, die bitteren Verluste, die Ängste, den Schmerz, selbst den Tod. Obwohl wir verdammen werden, was passiert ist, werden wir wissen, dass wir alles getan haben, um mitten im Chaos auch etwas Gutes zu schaffen.