"WIE ERINNERST DU DICH AN DEINEN FREUND?"

19. Dezember 2013

 

Nach jedem Selbstmordanschlag in Kabul beginnt das Zählen der Toten: Anfangs sind es ein oder zwei, dann steigen die Zahlen – meistens recht schnell. Auf Twitter: „Update of Kabul Suicide attack, 9 Afg 2 ISAF troop, 4 ISAF civilian contractors killed & 36 injured, women & children among dead.“ Jedes Mal versuche ich, ich mir vorstellen, was diese Zahlen wirklich bedeuten. Aber ich schaffe es nicht.

 

Ein paar Tage später weiß ich dann schon nicht mehr, wie viele Leute diesmal gestorben sind: Waren es 10 oder 12? 27 oder 24?

 

Das letzte große Attentat in Kabul passierte Mitte November. Ein paar Tage bevor 2500 Stammesvertreter, Mullahs und andere Mächtige für eine Woche zur Loya Jirga zusammenkamen, um über das Sicherheitsabkommen zwischen Afghanistan und den USA abzustimmen, sprengte ein Mann sich und einen Lastwagen in die Luft. 6 Menschen starben sofort, 23 wurden verletzt. Die Bombe explodierte nur ein paar hundert Meter entfernt von dem Ort, an dem die Loya Jirga stattfinden sollte.

 

Bei jedem Anschlag gibt es Journalisten und Anwohner, die Fotos ins Netz stellen: verkohlte Autos, verletzte Menschen, Leichen. Diesmal twitterte einer das Bild einer Taube, die von der Druckwelle getötet worden war.

 

Am nächsten Tag verstärkte die Polizei ihre Checkpoints in der ganzen Stadt, um einen Anschlag während der Loya Jirga zu verhindern; ein komplettes Viertel wurde für Autos gesperrt. Der Straßenverkehr, der in Kabul ohnehin verrückt ist, wurde wahnsinnig: Für einen Weg, der sonst eine halbe Stunde dauert, brauchte ich nun zwei Stunden. Nach zwei Tagen stop and go rief die Regierung Feiertage aus: Eine Woche lang blieben Ministerien und Botschaften geschlossen, die Leute gingen nicht zur Arbeit und der Verkehr war wieder nur „verrückt“.

 

Zur gleichen Zeit saß ein neunjähriger Junge aus Helmand in einem Lehmhaus in einem Flüchtlingscamp nahe der Loya Jirga und weinte um seinen verstorbenen Klassenkameraden. Die Bombe in dem Lastwagen hatte den Freund in die Luft gesprengt, als er gerade nach Leuten Ausschau hielt, denen er für ein paar Afghani ihre staubigen Schuhe putzen könnte.

 

„Wie erinnerst du dich an deinen Freund?“, fragte ich den Jungen damals. „Beim Verstecken spielen hat er sich nie an die Regeln gehalten“, antwortete er. „Er hat immer geluhrt beim Zählen.“

 

„Ist es das erste Mal, dass du einen Freund verlierst?“„Nein“, sagte der Junge. „Vor zwei Monaten ist ein Mädchen aus meiner Klasse bei einem Anschlag gestorben.“

 

Damals dachte ich: vielleicht sollten wir weniger Zahlen sammeln und öfter an diejenigen denken, die wir nie zu Gesicht bekommen, die Familien und Freunde der Toten. Diejenigen, die niemals vergessen können, wer gestorben ist.

 

Diese Woche lud mich ein Bekannter in ein kleines Haus im Viertel „Karte Cha“ ein. Eine Gruppe Jugendlicher veranstaltete dort eine Andacht. 30 Frauen und Männer sitzen auf dem Teppichboden im Kreis, zünden Kerzen an und gedenken der Menschen, die vor einem Monat gestorben sind; auch der Neunjährige aus dem Flüchtlingscamp ist gekommen mit ein paar Schulkameraden.

 

Mit einem Beamer werfen die Jugendlichen Fotos des getöteten Jungen an die Steinwand. Er sitzt im Unterricht und lacht. Seine Freunde sagen ein paar Worte – er war ein guter Junge, er fehlt uns, wir vergessen ihn nicht – und nach einem Moment der Stille pusten alle ihre Kerzen wieder aus.

 

Gleich nach der Andacht schalten die Jugendlichen eine Website frei. Sie wollen für jeden Afghanen, der in den Kriegen der vergangenen drei Jahrzehnte gestorben ist, einen Freund finden. Ihr Slogan heißt „2 million friends“. „Bitte schicken Sie eine Nachricht mit 'We remember them too' an borderfree@mail2world.com“, haben die Jugendlichen auf ihrer Seite geschrieben.

 

Einer von ihnen gibt jetzt ein Aufnahmegerät in die Runde und jeder, der mag, kann beschreiben, wie er sich gerade fühlt.

 

Ein Mann sagt, dass er vor 15 Jahren mit ansah, wie sein Bruder erschossen wurde. Ein Junge erzählt, dass sein Vater bei einem Luftangriff der USA starb. Einer wünscht sich, dass alle Afghanen zusammenhalten, damit endlich Frieden kommt. Dann schluchzt er.

 

Es reden noch mehr Leute. Und es weinen noch mehr.

 

In meinem Kopf ist nur eine Zahl: Zwei Millionen Tote. Ich kann sie mir nicht vorstellen.