7. November 2013
Vier Wochen. So lange hatte ich mir bei meiner letzten Afghanistan-Reise Zeit gegeben, um rauszufinden, ob ich hier länger leben könnte. Am letzten Abend lag ich auf meinem Bett und dachte an das Flugzeug, das mich am nächsten Morgen nach Dubai bringen würde, ich dachte an Deutschland und an die Entscheidung, die nun vor mir lag: Hamburg oder Kabul?
In diesem Moment rumpelte ein Freund in mein Zimmer. Mit seiner rechten Hand schwenkte er verschwörerisch eine braune Plastiktüte. “Ich hab was zu trinken besorgt”, sagte er und öffnete die Tüte einen Spalt. Whiskey.
Ich war erst ein paar Stunden zuvor aus einer Provinz im Norden nach Kabul gekommen. Es war eine anstrengende Reise. Hochwasser. Tagelang eingeschlossen in einem Bergdorf. Magen-Darm. Auf dem Rückweg: Aufsitzen im Flussbett, Auto voller Wasser. Fast hätte ich meinen Flug nach Deutschland verpasst.
Was ich an diesem Abend wollte war Schlaf, nicht Whiskey. Ich setzte an zu einer Ausrede. “Nein, nein”, erstickte der Freund meinen Versuch. “Heute ist dein letzter Abend. Und wir müssen reden.”
Ein paar Minuten später prostete er mir zu und trank einen Schluck. Dann sagte er mit ernster Mine: “Warum ausgerechnet Kabul? Das ist doch eine scheiß Idee!”
Ich hörte diese Frage nicht zum ersten Mal. Wann immer ich in Deutschland von meinen Plänen erzählt hatte und so sehr ich mich auch bemühte, das beiläufig zu tun – die Reaktion war immer gleich: Kabul? Bist du verrückt?
“Ich liebe meinen Job hier. Nichts ist einfach zu erklären. Und nächstes Jahr: Die Wahlen, der Abzug der NATO-Truppen – egal wie das wird, da beginnt was Neues. Außerdem mag ich dein Land. Ich mag die Witze, die ihr macht. Ich mag die Geschichten, die ihr erzählt. Wenn ich in Deutschland bleibe, dann seh ich das alles nicht, dann sehe ich nur Anschläge. Keine deutsche Redaktion hat einen Korrespondenten in Afghanistan.”
Als ich ein paar Wochen später ähnliches meinem damaligen Chef erzählte, bat er mich eine Kolumne zu schreiben (“Sie müssen dann natürlich auch erklären, warum Sie das machen.”) Meinen Freund in Kabul konnte ich nicht überzeugen.
“Du kannst zu Besuch kommen”, sagte er. “Dann siehst du das auch alles.”
“Du wirst nichts ändern mit deinem Job”, sagte er.
“Ich muss hier leben”, sagte er. “Aber du?”
“Du gefährdest dich, unnötig. Ich mache mir Sorgen.”
So ging das zwei Stunden. Keins meiner Argumente ließ er gelten.
Am Ende umarmten wir uns und er wankte zu seinem Auto. Auf halbem Weg drehte er sich um: “Vergiss, was ich gesagt hab – ich freu mich, dass du wiederkommst.”
Nun lebe ich seit sieben Wochen in Kabul und niemand hat mich mehr gefragt, warum. Stattdessen fragen mich die Leute: “Wie lange bleibst du?” Die Antwort darauf ist kurz: Ich weiß es nicht. Vielleicht solange, bis aus der Anspannung Angst wird. Oder mein Vater droht, mich zu enterben. Ich kann jederzeit gehen. Anders als meine afghanischen Freunde.