09. Januar 2014
Seit ein paar Wochen schreibe ich diese Kolumne an einem Schreibtisch, ich habe ihn im Möbelgeschäft um die Ecke gekauft. Er ist aus dunklem Holz und einen Meter breit, die Schublade quietscht, die Schranktür zieren Schnitzereien. Das Holz kommt aus der Provinz Nuristan. Wörtlich übersetzt heißt das „Land der Erleuchtung“. Nachdem das restliche Afghanistan schon jahrhundertelang muslimisch war, wurde Nuristan in den 1890er Jahren als letzte Provinz islamisiert. Seine Bewohner hatten lange den Ruf, bemerkenswerte Trinker zu sein.
Ein guter Freund von mir kommt aus Nuristan. Ich habe ihn kennengelernt als ich das erste Mal in Kabul war. Nach einem langen Interview fuhr er mich nach Hause, vielleicht gegen 23 Uhr. Es war das erste Mal, dass ich die Stadt bei Nacht sah: Verlassene Straßen, an den Seiten parken Autos, die auf den ersten Blick wie Wracks aussehen. In Wirklichkeit sind sie nur mit Plastik bedeckt, das vor Staub schützt. Hier und da baumeln bunte Glühbirnen vor einem Kiosk. An den Straßenecken stehen Männer beisammen, manche bewaffnet, manche nicht. Es kam mir damals so vor, als würde nachts die Stadt zur Ruhe kommen. Als würde der Wahnsinn, der Kabul tagsüber in Atem hält, für ein paar Stunden stoppen. „Sollen wir eine kleine Tour machen?“, fragte mich der Freund. „Ich kann dir die Stadt zeigen.“ „Lieber nicht“, sagte ich. Die Checkpoints waren mir damals noch nicht ganz geheuer. Er schaltete das Radio ein, dann sagte er: „Weißt du, Freundschaften, die in Kabul beginnen, die halten.“
Sechs Monate später trafen wir uns wieder. Wir redeten stundenlang. Das meiste, was der Freund an diesem Abend erzählt hat, hab ich schon wieder vergessen. Nicht, weil es uninteressant war. Sondern so viel.
Was er über Nuristan sagte, habe ich nicht vergessen. Er erzählte mir von seinem Traum, in seiner Heimat einen Nationalpark zu eröffnen. Er würde alle Autos verbieten, höchstens ein paar Elektrofahrzeuge wären noch erlaubt. Er würde Spazierwege bauen und Mülleimer aufstellen. Aus neun kleinen Dörfern würde er ein begehbares Museum machen. „Da leben ja noch überall Menschen“, sagte er, „aber es sieht aus wie im Mittelalter.“ Er würde Bio-Produkte anbauen lassen und Touristen herbringen. „Und in Nuristan liegt der kleinste Urwald der Welt.“
„Ist es dort sicher?“, fragte ich.
„Wenn du mit mir kommst, garantier ich dir... okay, alles kann ich auch nicht machen. Aber die Leute kennen mich da, das klappt schon. Kannst du dich für die Fahrt ein bisschen anders anziehen? Eine Burka vielleicht?“
„Klar“.
„Aber du bist groß, oder? Wie groß bist du? Steh mal auf!“ Ich stehe auf.
„Puh, naja, das klappt schon. Weißt du, wir haben hier nicht so große Frauen, aber das kriegen wir schon hin. Ich sag denen vorher, dass du kommst und dann kriegen wir das hin.“
In den letzten Monaten haben Taliban und andere Rebellen die meisten Wege nach Nuristan unter Kontrolle genommen. „Locals find no way to access markets and buy necessary stuffs to keep soul and body together“, schrieb die Afghanistan Times, die jeden Morgen auf meinem Frühstückstisch liegt. Ein Kilo Zucker kostete zeitweise 15.000 Afghani, das sind 300 Dollar. Drei Monate zuvor kostete das Kilo einen Dollar. Irgendwann schickte die Regierung aus Kabul ein paar LKW mit Lebensmitteln auf den Weg.
Auf den Weltkarten von vor 500 Jahren wurden unbekannte Gebiete als weiße Flecken eingezeichnet. „Hic sunt leones“ stand darauf. „Hier sind Löwen.“ Und auf den Seekarten: „Hier sind Drachen.“ Nach und nach wurden die Gegenden erschlossen, die Löwen wurden weniger, die Drachen auch. In Afghanistan kommt es einem manchmal so vor, als sei es genau andersrum. Selbst aus der Ferne, in der sicheren Hauptstadt, an meinem Schreibtisch, ist das ein komisches Gefühl.