VERLOBT, VERHEIRATET. VERLIEBT?

Kabul, 18. November 2014

 

Verlobungen sind für mich eine komplizierte Sache, jedenfalls seit ich in Kabul lebe. Jedes Mal, wenn mir jemand von seiner eigenen erzählt, weiß ich nicht, ob ich Glückwünsche oder doch lieber mein Bedauern aussprechen soll.

 

Bei einigermaßen guten Freunde frage ich inzwischen sofort: „Hast DU die Frau gefunden oder deine Familie?“ Soll heißen: heiratest du aus Liebe oder nicht? Ein verlässlicher Maßstab sind die Antworten auf diese Frage jedoch nicht. Manche Freunde sind totunglücklich über ihre arrangierte Ehe, andere haben überhaupt kein Problem damit, oder freuen sich sogar, weil sie wissen, dass mit dem Ja-Wort ihr gesellschaftliches Ansehen von einer Sekunde auf die andere in die Höhe schnellen wird. Wieder andere erzählen, dass ihre Eltern die Ehe arrangiert hätten, obwohl sie sich in Wahrheit mit ihrer langjährigen Freundin verlobt haben – sie wollen dem Ruf der Familie nicht schaden. Wie gesagt: es ist kompliziert.

 

Bei richtig guten Freunden frage ich deshalb grade raus: Bist du glücklich oder nicht? „Halb-halb“, antwortete ein Freund neulich. Er hatte sich seine Verlobte nicht selbst ausgesucht und dass seine Eltern die Ehe arrangieren würden, hatte er gewusst. Nur hatte er gehofft, das Ganze noch zwei, drei Jahre hinauszögern zu können. Doch dann wurde seine Schwester einem Cousin versprochen – und als Gegenzug er selbst der Cousine.

 

Diese Woche kam ein Bekannter zu uns nach Hause. Ich hatte ihn seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. „Wie geht's dir? Was macht das Leben?“ „Es ist toll!“, sagte er. „Ich habe mich verlobt! Jetzt bin ich zwar pleite – aber dafür auch sehr glücklich.“ Ich freute mich - über die Nachricht, und darüber, dass sie anders als sonst so deutlich war. „Glückwunsch!“, sagte ich. Und dann: „Hast du die Frau gefunden?"

„Nee, das haben meine Eltern arrangiert. Und ich bin auch ganz froh darüber. Du weißt ja, wie das bei uns ist: wir wohnen alle zusammen unter einem Dach: meine Eltern, meine Frau und ich. Falls meine Frau irgendwann nicht mehr mit meiner Familie klarkommen sollte – oder andersrum – dann bin ich wenigstens nicht derjenige, der es verbockt hat.“

 

Der Bekannte erzählte, dass es Monate gedauert hatte, bis seine Mutter die Richtige gefunden und alle Konditionen verhandelt hatte: die Verlobung findet im Hotel statt (teuer!); die Hochzeit findet im Hotel statt (noch teuerer!); und: die Familie des Mannes übernimmt alle Kosten. Am letzten Tag der Verhandlungen hatte der Freund eine vage Ahnung, dass nun der entscheidende Tag sein könnte, aber gewiss war er nicht. Er kam von der Uni nach Hause, alles war dunkel. Erst als er die Tür hinter sich zu und das Licht anmachte, sprangen ein paar Dutzend Verwandte in die Luft: „Glückwunsch!“, riefen sie, „du bist verlobt!“ Zu diesem Zeitpunkt hatte der Freund noch nicht einmal ein Foto seiner zukünftigen Frau gesehen. Die Mutter hatte ihm nur gesagt: „Sie ist sehr hübsch, sie ist gebildet, eine Lehrerin! Und ihre Familie ist auch anständig.“

 

Am Tag der Verlobung holte der Freund seine Zukünftige mit dem Auto ab – die werden bei solchen Gelegenheiten von oben bis unten mit Rosen beklebt. Die Frau wartete in einem Schönheits-Salon, wo sie stundenlang für die Zeremonie bearbeitet worden war: Lockenwickler, Make-Up, Nagellack, weißer Puder fürs Gesicht. Als der Freund ankam, trug sie einen Schleier, von ihrem Gesicht sah er nichts. „Nimm ihre Hand!“, zischte seine Mutter, die ihn begleitete. Also nahm er ihre Hand. „Sie hat gezittert“, erzählt er mir, „so aufgeregt war sie. Ich war auch wahnsinnig nervös. Ich wusste ja überhaupt nicht, was ich machen sollte.“ Die beiden stiegen in das rosenbeklebte Auto, zusammen mit den Eltern des Freundes, und fuhren ins Hotel, in dem die Verlobung stattfinden würde. Als sie ausstiegen, wollte der Freund wieder die Hand der Frau nehmen, aber nun zischte sein Bruder: „Noch seid ihr nicht verlobt! Das gehört sich nicht!“ Und der Freund ließ die Hand wieder los.

 

Für die Zeremonie werden Männer und Frauen getrennt. Es ist zwar nur die Verlobungsfeier, aber der Hochzeits-Schwur wird trotzdem schon gesprochen. Erst fragt ein Geistlicher den Mann: Willst du diese Frau heiraten? Dann fragt er zwei männliche Trauzeugen, die die Frau vertreten, ob die Frau auch diesen Mann heiraten will. Dann sind die beiden verheiratet. Der Freund muss er sich von allen Gästen auf der Männerseite der Feier die Hände schütteln lassen. Danach trifft er seine Frau zum ersten Mal.

 

Es gibt einen Raum für die beiden, in dem sie sich umziehen und in dem sie essen können. Eine halbe Stunde haben sie Zeit, bevor die Zeremonie weiter geht. Dort sieht der Mann das Gesicht seiner Frau. Sie schaut weg und sagt nichts. „Sie sah so nervös aus“, erzählt er, „und natürlich hätte es auch seltsam gewirkt, wenn sie einfach so drauf losplappern würde. Ich war auch nervös. Aber ich dachte mir: Wenn du jetzt nichts sagst, dann sitzt ihr hier beide und redet nicht.“ „Bist du müde“, fragte er sie, „du bist ja schon Stunden im Schönheits-Salon gesessen und jetzt noch die ganze Zeremonie.“ „Nein, schon okay“, sagte sie. „Sollen wir uns was zu essen holen?“, fragte er. „Die bringen bestimmt gleich was“, sagte sie. Nach einer halben Stunde gehen sie wieder zurück, diesmal zur Feier der Frauen. Sie sitzen zusammen auf einem Thron und schauen den Leuten beim Tanzen zu.

 

Nach der Feier bringt der Mann die Frau nach Hause. Seine Eltern sitzen hinten im Auto, er teilt sich mit seiner Frau den Beifahrersitz. „Gib mir deine Handynummer“, flüstert er ihr zu, „dann kann ich dich anrufen.“ Das ist nicht verboten, wenn man verlobt ist, aber der Freund sagt, seine Familie würde es nicht gerne sehen.

 

„Und jetzt telefonieren wir jeden Tag!“, erzählt der Freund. „Sie sagt, sie vermisst mich und dass sie mich wiedersehen will. Einmal hab ich sie vom Unterricht abgeholt, wir waren Mittagessenund dann hab ich sie nach hause gebracht.“ „Bist du glücklich?“, frage ich noch einmal. „Sehr!“, sagt er und strahlt. „Ich liebe sie. Sie ist meine Frau! Und ich will immer gut zu ihr sein.“

 

Dann erzählt er von einer Reise nach Dubai, ein paar Wochen vor der Verlobung. Er war mit einem Kollegen aus den USA unterwegs – und für den Freund war es, von Besuchen in Pakistan abgesehen, das erste Mal, dass er Afghanistan verließ. „Mein Kollege wollte in einen Nachtclub gehen. Ich hab gesagt: 'Gut, machen wir das. Dann seh ich mal, wie so etwas aussieht.' Im Nachtclub hat mein Kollege eine Frau bezahlt, damit sie mit ihm ins Bett steigt. 'Willst du nicht auch?', hat er gesagt. 'Nee, lass mal', hab ich gesagt. Und: 'Wieso machst du das? Was ist mit deiner Frau? Was ist mit deinen Kindern?' Der Kollege sagte: 'Ach da kannst du nicht mitreden! Wenn du erstmal verheiratet bist, dann merkst du schon, wie das ist.' Weißt du Ronja, ich glaube, das ist Quatsch. Wenn ich sowas nicht mache, während ich Single bin, dann mache ich es doch erst Recht nicht als verheirateter Mann.“

 

Der Bekannte erzählte noch mehr Geschichten aus Dubai. Am Ende sagte er: „Ich weiß, dass wir in unserer Gesellschaft strenge Regeln haben. Aber mir helfen sie irgendwie auch. Weil ich weiß, wenn ich sie befolge, dann kann ich nichts falsch machen. Dann bin ich ein guter Mensch. Das ist so, wie wenn ich weiß, wo der Ausgang eines Gebäudes ist, dann weiß ich genau, wo ich hingehen muss, um ihn zu finden. Wenn ich nicht weiß, wo die Tür ist, dann muss ich sie erstmal ewig suchen. Ich verschwende Zeit. Und im schlimmsten Fall finde ich sie nie."

 

Nur eine Sache, sagt der Freund, sei richtig scheiße: Für die Verlobung habe er mehr als 20.000 Dollar zahlen müssen. „Jetzt bin ich ein armer Mann“, sagt er, „und wir haben noch nicht einmal geheiratet.“