Kabul, 27. November 2014
Kabul hat in den letzten Tagen einen traurigen Rekord für mich aufgestellt: neun Selbstmordanschläge in zwei Wochen. Einmal waren es zwei an einem Tag: morgens eine Bombe, mittags eine Granate. Selbst in den Tagen vor der Präsidentschaftswahl im April waren es weniger.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn in Hamburg oder München ein Attentat passieren würde. Ich bin mir sicher, ich wüsste alle Details. Wieviele Leute sind gestorben, wieviele wurden verletzt, was sind ihre Geschichte, was war das Ziel des Attentats? Was hat der Bürgermeister danach gesagt? Ich stelle mir vor, dass ich das alles nie wieder vergessen würde.
In Kabul ist es anders. Ich kann die neun Anschläge nicht einmal mehr einzeln aufzählen. Ich weiß nicht, wieviele Menschen getötet wurden und wieviele verletzt. Alles, was ich erinnere, sind beiläufige Fakten.
Dass der Vize-Präsident Abdul Raschid Dostum morgens in Jogging-Anzug und Mütze zu einem Anschlagsort kam und den Fernsehteams in ihre Kameras sagte, das Morden Unschuldiger sei unmenschlich. Dostum hat Erfahrung mit dem Ermorden Unschuldiger - seitdem Bürgerkrieg in den 90er Jahren trägt er den Spitzamen „Schlächter“. Er ist einer von vielen Verbrechern, die nie verurteilt wurden. In einem Interview sagte er neulich: „Die glücklichsten Tage meines Lebens sind die, an denen Ashraf Ghani außer Landes ist und ich der Übergangspräsident bin.“
Ich erinnere mich an den Granaten-Einschlag nahe der tadschikischen Botschaft, weil Nik am Morgen zuvor ein paar Interviews dort geführt hatte. Ich erinnere mich an einen Anschlag im Green Village, weil es das erste Mal war, das ich von diesem Stadtteil hörte. Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem mein Fahrer erzählte, er sei morgens von einer Explosion aufgewacht und erschrocken, weil der Knall so laut war, dass er dachte, es habe sein Haus getroffen. Als er merkte, dass es weiter weg war, legte er sich wieder schlafen. „Hast du Angst, wenn du auf den Straßen bist?“, fragte ich. Er sagte: „Jeden Tag.“
Heute vormittag sprengte ein Attentäter sich und fünf andere Menschen in den Tod. 35 Menschen wurden verletzt. Ich vermute, bald werde ich die Zahlen vergessen haben. Erinnern werde ich mich wahrscheinlich nur an einen Schuh, den ich auf einem Foto bei Twitter gesehen habe. Der Schuh eines Toten. Ich kenne nicht seinen Namen, sein Alter, seine Geschichte. So ist es meistens. Ich weiß nur: er ist einer von sechs.
Der schlimmste Anschlag in den letzten beiden Wochen war nicht in Kabul, sondern in Paktika, im Osten des Landes. Ein Mann sprengte sich im Zuschauerfeld eines Volleyball-Spiels in die Luft. Mindestens 62 Menschen starben, mehr als 80 Menschen wurden verletzt. Das Attentat ist drei Tage her, aber ich musste die Zahlen googlen für diesen Text.
Vor ein paar Minuten schrieb ein Blogger auf Twitter: „The deaths in explosions r only UPDATES for us; we need to change our thinking, consider every death a tragedy & do somthing about it.“
Er hat so verdammt Recht.