Kabul, 11. April 2014
Jedes Mal wenn einer meiner Freunde für ein paar Wochen in den Urlaub fährt, kommt kurz vor der Rückkehr eine E-Mail: Brauchst du irgendwas? Manchmal schreibe ich Speck, manchmal Rotwein, manchmal Taschentücher – die wenigen Dinge, die man in Kabul nicht bekommt. In letzter Zeit stand in diesen E-Mails öfter: Einwegkameras.
Ein befreundeter Künstler hat beschlossen, sechs Straßenkindern aus seiner Nachbarschaft das Fotografieren beizubringen und danach ihre Bilder auszustellen. Mit dem Geld will er den Kindern, fünf Jungs und ein Mädchen, finanzieren, was sie normalerweise mit Kaugummi verkaufen und Schuhe putzen verdienen müssen: Schulbücher, Essen, Kleidung, Miete.
Der Künstler hat einen Fotografen aus England um Hilfe gebeten, der nach Afghanistan gekommen ist, um über die Präsidentschaftswahl zu berichten. Am ersten Tag zeigt er den Straßenkindern ein paar seiner Bilder: wartende Menschen vor einem Wahllokal in Jalalabad. Bilder einer Überschwemmung in der britischen Region Somerset, ein Streik der Londoner U-Bahn. Ein Junge schlägt vor, die Leute aus Sommerset könnten sich doch in Kabul eine neue Bleibe suchen. Ein anderer sagt, dass der Londoner Bürgermeister Boris Johnson wie ein Clown aussieht.
Als ich die Kinder am zweiten Morgen begrüße, zeigt das Mädchen auf einen Jungen in brauner Lederjacke. „Er hat gestern Prügel bekommen.“ „Warum?“ „Ist nach dem Fotokurs nicht zur Schule gegangen.“ Dann hüpfen sie in den Kofferraum eines Geländewagens.
Wir fahren zum Darul Aman Palast. Er wurde in den 1920er gebaut, als Afghanistan noch einen König hatte. In den 90ern, als in Kabul Bürgerkrieg herrschte, wurde er zerbombt. Wir sehen die Ruine schon von Weitem: die Mauern sind zersprengt, und da wo ein Dach war, ragt nur noch ein Stahlgerüst heraus, wie das Skelett eines verwesenden Körpers. Trotzdem wirkt das Gebäude immer noch mächtig.
Niemand bezahlt für die Restauration und so bleibt der Darul Aman, der Platz des Friedens, ein vor sich hinrottendes Denkmal.
Ein kleines Mädchen läuft uns entgegen und hält die Hand auf. „Gib ihr was“, sagt das Mädchen aus der Fotogruppe. „Ist das eine Freundin von dir?“, frage ich. „Nein, aber sie das Geld bestimmt.“
Der Palast wird von Soldaten bewacht. Man kann sie entweder bezahlen, um reinzukommen – oder verhandeln. Nach 15 Minuten dürfen wir rein, für 10 Minuten. Für die Kinder ist es das erste Mal. Für mich auch.
Von innen sieht der Palast noch verstörender aus: An den Treppen fehlen Geländer, die eingestürzten Wände haben riesige Schutthaufen hinterlassen und die, die noch stehen, sehen so aus als würden sie jeden Moment einstürzen. Dem Künstler fällt ein Steinklumpen auf den Kopf.
Unsere Gruppe ist ein lustiger Anblick: Der Künstler filmt die Kinder, der Fotograf filmt die Kinder, die Kinder fotografieren sich gegenseitig und ich mache Fotos von allen zusammen. Nach ein paar Minuten komme ich mir dämlich dabei vor. Ich lasse mich ein paar Meter zurückfallen und unterhalte mich mit einem alten Mann, den ich jedes Mal sehe, wenn ich zum Palast komme. Er trägt einen Turban. Weißer Bart, nur noch ein paar Zähne, tiefe Lachfalten. Angeblich ist er der Gärtner des Königs, der immer noch jeden Tag zu seinem alten Arbeitsplatz zurückkommt. Ich hab keine Ahnung, ob die Geschichte stimmt, aber ich mag sie. Heute erzählt mir der Mann wie es war, als die Bomben in den Palast eingeschlagen sind.
Auf dem Rückweg frage ich den Jungen mit der Lederjacke nach seinem besten Bild des Tages. Er zuckt mit den Schultern. „Eins von dir? Eins vom Palast? Eins von deinen Freunden?“, versuche ich es noch einmal. „Von dir“, sagt er, grinst und geht davon.
Am Nachmittag gibt der Fotograf den Kindern je eine Kamera mit nach hause – und ein paar Regeln, damit sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Keine Frauen, außer sie tragen Burka. Keine Soldaten. Keine Polizisten. Keine Regierungsgebäude. In der Schule packt ihr die Kamera nicht aus und zuhause fragt ihr eure Eltern um Erlaubnis.
Zwei Tage später liegen die Bilder gedruckt vor uns. Ein Junge hat ein rotes Fahrrad fotografiert, an dem er jeden Tag vorbeiläuft, weil er es so gern haben würde. Ein anderer hat Hühner fotografiert. Weil sie ihm schmecken und weil er sie nicht oft auf den Teller bekommt. „Was ist dein bestes Bild?“, fragt ihn der Fotograf. Es ist ein Foto mit Kindern aus dem Flüchtlingscamp. „Warum?“ „Sie gehen nicht zur Schule und haben keine Schuhe. Wenn die Leute mein Foto sehen, vielleicht helfen sie dann?“
Der Junge mit der Lederjacke hat einen Drogensüchtigen fotografiert, der am Straßenrand schläft, und einen Soldaten. Das war zwar gegen die Regeln, aber das Bild ist natürlich super. „Hattest du keine Angst?“, frage ich ihn. Er schnalzt mit der Zunge. Heißt: Nein. „Hast du keine Angst vor den Soldaten?“, frage ich nochmal.
„Das sind doch auch nur Menschen.“
„Vor was hast du denn Angst?“ „Vor Gott.“
„Und sonst vor nichts?“ „Nee.“
„Vor Mäusen?“ Der Junge schnalzt mit der Zunge und lacht.
„Vor Hunden?“ Jetzt schaut er ernst: „Ja. Vor Hunden und vor Gott.“