Kabul, 18. April 2014
Neulich war ich in Masar-i-Scharif. Es ist die größte Stadt im Norden Afghanistans, der letzte verbliebene Standort der Bundeswehr und verglichen mit Kabul fühlt sich Mazar wie ein Urlaubsort an.
Es gibt Ampeln, der Verkehr ist geregelt und die Stadt sicher. Vor der Blauen Moschee, der größten Attraktion der Stadt, fotografieren sich Touristen wie auf dem Markusplatz in Venedig mit hunderten Tauben. Ich sitze auf einer Bank in der Sonne. Später bummle ich über einen verwinkelten Bazar, an dem Frauen in Burka mit Ladenbesitzern um bunte BHs handeln. Und nachmittags schaue ich dann beim Buskaschi zu – ein Spiel, bei dem hunderte Reiter versuchen, ein totes, geköpftes Schaf in einen Kreidekreis am Spielfeldrand zu zerren.
Nach drei Tagen fährt mich ein Freund zurück zum Flughafen. Wir kommen an einem mehrstöckigen, ziemlich großen Wohnhaus vorbei. „Das gehört der Tochter von Rabbani“, sagt der Freund. Rabbani war während der Herrschaft der Taliban politischer Anführer der Nordallianz und offizieller Präsident Afghanistans. 2011 wurde er in Kabul ermordet.
„War Rabbani gut?“
„Kommt drauf an, wen du fragst“, sagt der Freund. „Wenn du die Badachschanis fragst, war Rabbani gut. Weil er aus ihrer Provinz stammt. Wenn du Leute aus Panschir fragst, sagen sie: Massoud war besser. Weil er aus Panschir stammte.“
Afghanistan hat 34 Provinzen und sie spielen eine wichtige Rolle – aus verschiedenen Gründen.
Ohne die Provinzen wären die Afghanen nur halb so lustig: Es gäbe keine Witze über die dummen Wardakis, die Wissens-Süchtigen aus Bamyan oder Daikundi ("die selbst am Galgen hängend noch weiterlernen"), die viel zu friedlichen Badachschanis, ("die nichtmal ihre Schafe umbringen"), die trinkenden Nuristanis und die schwulen Kandaharis. (Mein Favorit: Ein Wardaki beobachtet durch einen Türspalt, wie seine Frau mit einem anderen Mann rummacht. „Wenn das meine Frau ist“, denkt er, „muss ich der Mann sein, den sie küsst. Aber wer ist dann der perverse Typ, der uns durch den Türspalt beobachtet?“)
Ich mag die Witze, vielleicht weil sie mich an die Preußenwitze meines Vaters erinnern und an die Bayernwitze meiner Freunde. Aber wirklich wichtig sind die Provinzen aus einem anderen Grund.
Vor jedem Interview, das ich hier führe, versuche ich herauszubekommen, welcher Ethnie mein Gesprächspartner angehört – das hilft mir, seine politische Sichtweise einzuordnen. Direkt danach fragen wäre ein Affront. Also laviere ich herum: „Wo wohnst du? Wo lebt deine Familie und wo kommt sie eigentlich her?“ Viele Bewohner Kabuls kommen ursprünglich aus einer anderen Provinz: manche hat der Krieg in die Hauptstadt gebracht, manche die Armut, ein neuer Job oder die Sehnsucht nach Fortschritt und etwas Luxus. Und selbst diejenigen, die in Kabul geboren sind, erzählen oft von ihrer „eigentlichen“ Heimat. Nach den Antworten kann ich die Ethnie wenigstens grob einschätzen: In den nördlichen Provinzen leben vor allem Tadschiken, im Süden Paschtunen und in der Mitte Hazara.
Eine Provinz – so ist mein Eindruck – vererbt sich über Generationen. Das Heimweh nach ihr auch. Die meisten Leute schwärmen, wenn sie mir von ihrer Herkunft erzählen: „Die Landschaft! Die Bräuche! Das Essen!“ Danach sagen sie: „Leider kann ich nicht oft hin, es ist zu gefährlich.“ Oder: „Ich war noch nie dort.“ Ein Freund hat letztens erzählt, dass er seinen Vater seit acht Jahren bequatscht, damit er endlich einmal in seine Heimat fahren kann, Waziristan - doch er hat keine Chance. Manchmal denke ich, dass die Sehnsucht der Leute nach „ihrer“ Provinz mehr über die Probleme Afghanistans erklärt als jedes Sachbuch.
Als wir in Masar auf dem Weg zum Flughafen an ein paar Plakaten der Präsidentschaftskandidaten vorbeifahren, frage ich den Freund: Wen hast du gewählt?
„Ashraf Ghani Ahmadzai“, sagt er.
„Warum?“
„Er kommt aus Logar. Das ist meine Provinz.“
Ich will einen Witz über Logar machen, aber mir fällt keiner ein. Stattdessen erinnere ich mich an eine Schlagzeile aus Logar von vor ein paar Wochen: US-Drohne tötet versehentlich 5 afghanische Soldaten.