13. Februar 2014
Es ist Winter, und Winter in Afghanistan heißt: kalt! Schnee, dachte ich also, ist in Kabul nicht viel außergewöhnlicher als zum Beispiel in München. Ich habe meine Meinung inzwischen geändert.
Letzte Woche schaute ich eines Morgens aus meinem Fenster in einen weißen Garten. Dicke Flocken fielen, den ganzen Tag und ohne Pause.
Schon am Abend – inzwischen lagen draußen vielleicht zwanzig Zentimeter Schnee – merkte ich beim Checken meiner E-Mails, dass etwas anders war also sonst, nämlich auf Twitter. Unter dem Hashtag #Kabul reihten sich nicht wie sonst die Schreckensmeldungen über korrupte Politiker, gescheiterte Hilfsprojekte oder getötete Zivilisten. Stattdessen schien es, als würde jeder, der ein Smartphone besitzt (und jeder, der jemanden kennt, der ein Smartphone besitzt), sein Bild vom Schnee in die Welt schicken wollen.
Eine junge Frau in dunklen Kleidern und Kopftuch läuft durch ein Schneegestöber in Makroyan – dem Häuserblockviertel, das die Russen während ihrer Besetzung gebaut haben.
Ungezählte Lichter auf einem weißen Berg – die Lehmhäuser der Altstadt, deren Stromversorgung oft als Beispiel dient, um den Fortschritt im Land zu beschreiben.
Ein junger Mann neben einer Schnee-Buddhastatue. Das 55 Meter hohe, in Fels gehauene Original sprengten die Taliban im Jahr 2001.
Ich twitterte auch ein Foto: einen schneebedeckten Baum, der am Weg zum Supermarkt steht und mich an die Kirschblüte im Frühling erinnerte.
Der Bilderrausch blieb nicht unbemerkt. Viele Afghanen, die im Ausland leben, packten ihr Heimweh und die aufkommende Sehnsucht in 140 Zeichen und wünschten sich zurück in die Stadt, die noch ein paar Wochen zuvor, nach dem Anschlag auf das Restaurant Taverna, vielen als verloren galt.
Über Nacht gefror dann der Schnee, am nächsten Morgen waren die Straßen glatt; und so leer, wie ich sie in fünf Monaten noch nie gesehen hatte. Trippelschritte, weniger Leute, alle irgendwie bezaubert. Es war, als hätte ganz Kabul sich in einen Wintermantel aus Ruhe gehüllt. Kleine Jungen rutschten einen Hügel hinunter, ein paar Jugendliche hatten von irgendwoher Snowboards besorgt. Und an einem Checkpoint stand neben den Polizisten nun auch ein Schneemann. Für einen Moment fühlte es sich so an, als würden die vielen Grenzen, Mauern und Stacheldrähte, die diese Stadt teilen, gar nicht existieren. Kinder, Soldaten, Ausländer – jeder warf Schnee.
Nachrichten aus dem Süden des Landes: Auch in Helmand und Kandahar, dort, wo der Krieg am schlimmsten wütet, hatte es geschneit – das erste Mal seit dreißig Jahren. Die Afghanistan Times druckte auf Seite zwei das Bild eines Schneemanns mit seinen Schöpfern, ein paar Nato-Soldaten.
Doch der Schnee macht noch mehr: Diejenigen, die vor dem Krieg aus den Provinzen nach Kabul geflohen sind und jetzt in Zelten leben, lässt er frieren; genauso die 60 000 Kinder, die auf den Straßen der Hauptstadt arbeiten.
Den Leuten auf dem Dorf erschwert er Alltag und Überleben. Schulen sind den Winter über geschlossen, Krankenhäuser für viele unerreichbar.
Gleichzeitig hilft der Schnee den Menschen: Zu Eisblöcken gepresst und kalt gelagert, dient er im besten Fall noch bis in den Sommer als Wasservorrat. Vor allem aber schnürt er den Aufständischen die Wege ab. Traditionell beginnt erst mit dem Tauwetter die sogenannte fighting season, in der sich die Anschläge wieder mehren.
In diesem Jahr war der Winter mild. Kabul wurde im Januar siebenmal attackiert – so oft wie seit Monaten nicht mehr. Vielleicht war das der Grund, warum sich so viele über den Schnee freuten.
Bei mir lag es vor allem an den schönen Bildern. Eines davon schickte ich einem guten Freund, der zwei Jahre lang in Afghanistan gelebt hatte. Er antwortete mit einem Sprichwort: "Kabul be sar bascha be barf ne." Ohne Gold kann Kabul existieren, aber nicht ohne Schnee.