NACHTS

Kabul, 25. April 2014

 

Seitdem ich nach Kabul gezogen bin, bekomme ich ziemlich viele Emails von Leuten, die ich nicht kenne. Eine Frau aus Deutschland schrieb mir von ihrer Afghanistanreise – vor 45 Jahren: durch Kornfelder laufen, auf der Ladefläche eines Lastwagens mitfahren, im Minirock durch Kabul spazieren. Am Ende schrieb sie: "Wir hatten den Eindruck gewonnen, es sei so etwas wie ein Aufbruch in die Neuzeit. Ich habe nie verwunden, wie sehr wir uns getäuscht haben. Die Dias, die ich damals gemacht habe, liegen in meinem Bücherschrank, und ich bin immer noch zu traurig, um sie mir anzusehen." Wir haben uns für einen gemeinsamen Foto-Abend verabredet. Ein Musiker schrieb mir, dass er gerne mal ein Konzert in Kabul aufführen würde und eine Lehrerin fragte, ob ich Lust hätte, mich per Skype mit ihren Schülern zu unterhalten. Ich mag diese zufälligen Begegnungen. Wenn Leute aus der Ferne in mein Leben rumpeln.

 

Schon vor ein paar Monaten schrieb mir ein Kunststudent aus Leipzig, er arbeite gerade an einem Film - über "die Nacht". Alles weitere klang ziemlich wirr: Er wolle Nachtwärter aus zwölf Ländern nachts über die Nacht befragen, dann die Interviews zu einer neuen Handlung zusammenstricken und den Text, jeweils in Originalsprache, von einem Schauspieler nachsprechen lassen, als würde er in einer Art gespaltenen Persönlichkeit mit sich selbst sprechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte, aber ich mochte die Idee - vielleicht gerade deshalb - und sagte zu, ein Interview aus Kabul zu liefern. Nachtwärter: unser jüngster Pförtner. Übersetzer: mein Dari-Lehrer. Interviewer: ich.

 

Der Dari-Lehrer spricht besser Englisch als ich und macht so viele Witze, dass ich nach dem Unterricht eigentlich immer gute Laune habe.

 

Der Pförtner ist 21 Jahre alt, vor ein paar Wochen hat er seinen Schulabschluss gemacht. Manchmal essen wir zusammen, er lernt mit mir Englisch und zeigt mir Fotos von Ausflügen mit seinen Freunden. Aber er ist auch ein konservativer Paschtune. Hazara und Tadschiken, sagt er, die beiden anderen Ethnien, sind eigentlich keine richtige Afghanen. Weil sie keine Geschichte haben und keine Tradition. Als mein Mitbewohner einen Welpen mit ins Haus brachte, erklärte der junge Pförtner uns für verrückt – Hunde sind unrein – und schlug vor, eine Leine zu besorgen, an der wir den Hund dann immer anbinden könnten. Am Neujahrstag tanzte er in unserem Garten. Aber er sagte auch: wenn das meine Familie erfährt!

 

Das Interview soll am Arbeitsplatz des Nachtwärters stattfinden: einem zwei Quadratmeter großen Häuschen mit Sitzecke. Wenn man zusammenrutscht, haben drei Leute Platz. „Setzt ihr euch hin“, sagt der Pförtner. „Ich bleibe stehen.“ „Setzt ihr euch hin“, sage ich, weil ich davon ausgehe, dass es beiden unangenehm ist, in Anwesenheit des jeweils anderen direkt neben einer Frau zu sitzen. „Quatsch“, sagt mein Darilehrer zum Pförtner. „Ronja setzt sich links hin, ich in die Mitte, und du rechts.“ Der Pförtner ist irritiert. Ich auch. Aber wir folgen dem Vorschlag.

 

Erste Frage: Wo würdest du am liebsten arbeiten als Nachwärter? „Irgendwo“, sagt der Pförtner, „Hauptsache, es ist sicher. In Dubai vielleicht. Dort siehst du fast keine Polizisten auf der Straße. Die brauchen sie nicht, weil überall Überwachungskameras sind.“

 

Wir reden über seinen Alltag, über seine Albträume von Selbstmordattentätern und darüber, dass er sich erstmal ausschlafen muss, wenn er nach hause kommt, weil das Bett, das er bei uns hat, so unbequem ist.

 

„Ist dir bei der Arbeit mal was Witziges passiert?“, frage ich. Er schweigt. „Vielleicht mit uns Ausländern?“ Er schweigt. „Ich erzähl's auch den anderen nicht.“ Er lacht und erzählt dann eine Geschichte. Ich kann sie nicht schreiben, wegen dem Versprechen, aber es ging um betrunkene Freunde meiner Mitbewohner. Und um ein Klo.

 

Was machst du, um dir die Zeit zu vertreiben? „Ich bin Muslim“, sagt der Pförtner, „also lese ich den Koran.“ „Also ich bin auch Muslim“, sagt der Darilehrer, während er übersetzt „und ich lese nicht den Koran. Nur damit du's weißt.“ Er lacht.

 

Magst du die Nacht? „Ja. Nachts kann man entspannen. Alle Probleme, die man tagsüber hat, verschwinden und man wird ruhig. Ich mag die Dunkelheit.“

 

Nach einer Stunde ist das Interview zu Ende. Mein Darilehrer macht mit seinem Handy ein Foto von uns dreien auf der Sitzbank. Wie immer mache ich einen Witz darüber, dass Afghanen nie lachen, wenn sie fotografiert werden. Der Pförtner wird ernst. „Es ist nicht gut für einen Muslim, so viel zu lachen“, sagt er. Ich verkneife mir ein Grinsen, denn normalerweise lacht der Pförtner ziemlich viel. „Also ich lache andauernd“, sagt mein Dari-Lehrer und fängt damit an.

 

Gestern Abend habe ich wieder eine Mail bekommen. Zwei Jungs schrieben, dass sie gerade durch Pakistan reisen und nun versuchen wollen, über den Khyber Pass zu gelangen. Ob ich denn, falls sie es nach Kabul schaffen sollten, mal Zeit hätte für einen Tee?