Kabul, 6. Mai 2014
„Ich hab euch eine Woche nicht mehr gesehen“, sagte unserer Fahrer, als er uns zum Einkaufen abholte, „wir müssen etwas unternehmen. Raucht ihr Schischa?“ Ich lehne mich zurück. Rauchen ist für Frauen verpönt, es geht also nur um Nik. „Ja“, sagt der. Da fängt unser Fahrer an zu erzählen, von einer Bar. Gemütlich sei es dort, und nur junge Leute. Man kann sitzen, rauchen, quatschen. Nur aus Höflichkeit frage ich nach: „Für Männer, stimmt's?“ Der Fahrer lacht. „Quatsch. Bevor wir unsern Sohn bekommen haben, war ich öfters mit meiner Frau dort. Sonntag, 18 Uhr, ja? Ich hol euch ab!“
Es gibt in Kabul viele Momente, in denen man eine Einladung ablehnen kann. „Willst du Tee trinken?“ zum Beispiel, ist Teil der 15-Satz-Konstruktion, die man sich zur Begrüßung hin und herschiebt: „Wie gehts dir? Gehts dir gut? Was macht die Gesundheit? Wie gehts der Familie? Ist Zuhause alles in Ordnung? Ist dein Körper okay? Nochmal: wie geht's dir?“ Und dann: „Willst du Tee?“ Ich habe mir eine Faustregel aufgestellt: Unter drei Mal Nachfragen sage ich nicht ja, egal ob Tee oder Essen. Wenn eine Einladung ernst gemeint ist, sollte man aber auf keinen Fall „nein“ sagen. Manchmal ist es schwierig, sich in diesem Wirrwarr zurecht zu finden. Und es passiert mir immer wieder, dass ich Leute überrumple, wenn ich nach der dritten Einladung „ja“ sage. Bei unserem Fahrer ist die Sache klar. Er ist ein guter Freund und sauer, wenn wir Nein sagen. Egal, mit welcher Ausrede.
Sonntag, kurz nach 18 Uhr. Wir laufen in so etwas wie eine Parkgarage, an deren Ende landen wir in einer kleinen Halle. Die Wände sind plakatiert mit Frauen. Ohne Kopftücher. Sehr leicht bekleidet. Ich bin schockiert und blicke hilfesuchend zu meinem Fahrer. Für ihn ist alles normal. Es gibt einen Raum für Männer, aus dem Musik kommt. Klatschen, Tanzen, Gejohle. Und es gibt einen Raum für Männer und Frauen. Ein dutzend jeweils mit Vorhängen abgetrennte Sitzecken. Wir gehen zur hintersten. Silberschwarzer Glitzervorhang. Links ein knallbuntes Bild einer Schischa rauchenden Bauchtänzerin. Rechts ein schwarz-weiß Portrait einer Frau.
Sie bläst lasziv Rauch aus ihrem Mund. Auf den Plakaten sind noch die Copyright-Marker zu sehen. „Gibt es hier auch Alkohol?“ „Und Drogen?“ frage ich unseren Fahrer. Der Ort kommt mir so unwahrscheinlich vor, dass ich ihn für eine Dealerhöhle halten. „Nein“, sagt er. „Nur Schischa, Nüsse, Säfte und Kebab." Als der Kellner eine Wasserpfeife für uns startet, hustet er und hört nicht mehr damit auf. Ich bin nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist. Ich versuche beim Rauchen mit der Hand eine Schlauchverlängerung zu formen, um mich nicht anzustecken. Und komme mir blöd dabei vor.
„Ronja, schau!“ sagt der Fahrer und zeigt in den Raum. Zwei Frauen tanzen. Das habe ich bisher nur auf Hochzeiten gesehen. Und da feiern Männer und Frauen getrennt. In der Kissenecke nebenan sitzt ein junges Paar. Der Mann hat seiner Freundin einen Arm um die Schulter gelegt und ihr einen Kuss auf die Backe gegeben. Ich schaue verlegen weg.
Ich komme mir vor wie 12, das erste Mal in einem Club. Ich weiß nicht so recht, was machen. Weil ich versuche, mich „richtig“ zu verhalten, verhalte ich mich komisch. „Habt ihr Diskos in Deutschland?“, fragt der Fahrer. Nik erzählt, dass es meistens nicht vor elf Uhr abends losgeht und dafür bis in der Früh geht. Ich sage nichts.
Ich lebe seit acht Monaten in Kabul, aber das ist der erste Moment, in dem ich verstehe, dass meine Freunde hier gerne feiern würden. Dass die Tatsache, dass sie Partys nicht so gewohnt sind wie wir, nicht heißt, dass sie es nicht vermissen.
„Wie lange hat die Bar hier auf?“, frage ich. „Bis neun.“ Noch zehn Minuten. „Wünsch dir ein Lied, Ronja!“ Ich sage mein afghanisches Lieblingslied. Der Kellner schreibt einen Zettel und bringt ihn in den Männerraum. Der Sänger kennt den Text nicht. Also spielt er ein Lied mit halbenglischem-halbafghanischem Text, „für unsere ausländischen Gäste“, sagt er davor. Alles, was ich verstehe, ist: I love you.
Auf dem Rückweg ist unserem Fahrer schlecht, vom vielen Rauch. Wir kaufen Burger und einen Kaugummi - damit sein Chef den Rauch nicht bemerkt.