27. Februar 2014
Grüne Stofffetzen wehen in Kabul: An Berghängen, auf einem kleinen Platz zwischen den engen Gassen der Altstadt und in der Nähe vom Zoo. Die Tücher markieren Gräber. Nicht irgendwelche Gräber, sondern Märtyrer-Gräber.
Obwohl ich schon viele Leute gefragt habe – so ganz habe ich das Prinzip dahinter noch nicht verstanden. Wer im Kampf gegen die Sowjets oder die Taliban gestorben ist, gilt als Märtyrer; auch wer bei einem Selbstmordattentat getötet worden ist. Was den Bürgerkrieg angeht, bin ich unsicher: manche behaupteten, das zähle auch. Andere beharrten auf das Gegenteil. Ein Freund erzählte mir, dass auch jemand, der an einem Herzinfarkt stirbt, als Märtyrer gilt. Und als letzte Woche Mullah Abdul Raqeeb, zu Talibanzeiten Flüchtlingsminister in Kabul, in Pakistan erschossen wurde, nannte Präsident Karsai selbst ihn einen „Märtyrer des Friedens“.
Das Wort Märtyrer ist also ein verhältnismäßig alltägliches. Seit letztem Wochenende aber lese und höre ich es überall.
In der Provinz Kuna, an der Grenze zu Pakistan, töteten Kämpfer der Taliban 21 afghanische Soldaten. Die meisten von ihnen wurden im Schlaf erschossen, offenbar hatten die Wachen des Außenposten den Angreifern Zutritt verschafft. So erzählt es der Provinzgouverneur und einige Soldaten, die fliehen konnten. Ein Sprecher des Verteidigungsministerium hingegen sagte bei einer Pressekonferenz, die Taliban hätten zu hunderten angegriffen und die afghanischen Soldaten bis zum Ende gekämpft. In einem sind sich alle einig: es war der tödlichste Angriff auf afghanische Sicherheitskräfte seit 2010.
Die Leichen wurden in Helikoptern nach Kabul geflogen. 21 Särge aufgereiht nebeneinander, jeder in die schwarz-rot-grüne Flagge Afghanistans gehüllt. Bouquets aus Plastikblumen. Salutierende Soldaten. Eine Militärkapelle.
Auf Facebook posteten viele meiner Freunde Fotos der Trauerfeier und fast alle tauschten ihr Profilbild mit dem eines afghanischen Soldaten. Einige Jugendliche fotografierten sich mit einem Schild in der Hand: „Wir wissen jeden Tropfen Blut, den unsere Nationalarmee verlieren muss, zu schätzen.“ In einem Park nahe meinem Haus, wo Kinder Cricket spielen und Männer an Turngeräten ihre Muskel trainieren, haben Jugendliche für diese Woche eine Demonstration geplant. Sie wollen Solidarität mit den Familien zeigen. Im Internet startete jemand eine Fundraising-Kampagne und mehrere Politiker sammelten Spenden für die Hinterbliebenen. Vom Staat bekommen sie pro Gefallenen etwa 1300 Euro Entschädigung.
„Die Uniformen eurer Brüder und Söhne sind nun ihre Totengewänder“, sagte der Verteidigungsminister während der Zeremonie. „Wir werden ihrem Weg folgen und ihr Blut verteidigen.“
Präsident Karsai war nicht zur Trauerfeier erschienen. Und für viele klang es auf einmal sehr zynisch, dass er die Taliban „unglückliche Brüder“ nennt, manchmal auch nur „Brüder“; dass er jenen Mullah Abdul Raqeeb als „Märtyrer des Friedens“ bezeichnet und dessen Vater am Telefon kondolierte hatte. Das Präsidentenamt reagierte auf die Kritik: Eine Sprecherin ließ verlauten, Karsai habe auch afghanische Soldaten stets „Märtyrer“ genannt.
Inzwischen hat der Vater eines gefallenen Soldaten vor dem Parlamentsgebäude ein Zelt aufgebaut und angekündigt, solange auszuharren bis der Präsident sich wenigstens einmal mit den Familien trifft.
Bald werden neue Stoff-Fetzen im Wind flattern, auf 21 Gräbern, in grün. „Die Farbe der Hoffnung“, sagt man in Deutschland. In Kabul erinnert sie vor allem an Krieg.