MR. DREI PROZENT

Kabul, 24. September 2014

 

Ein gutes Jahr erkennt man an seinem Frühling; so geht ein Sprichwort in Kabul. Anfang gut, alles gut. Ich glaube nicht, dass es stimmt – aber falls doch, wird Ashraf Ghanis Präsidentschaft ziemlich spektakulär.

 

„Ich bin gewählt als euer Herrscher, aber ich bin nicht besser als ihr“, zitierte der neue Präsident in seiner Antrittsrede den ersten Kallifen des Islam, Abu Bakr. Und fügte hinzu: „Wenn ich also Fehler machen sollte, dann müsst ihr mich zur Verantwortung ziehen.“ Er dankte seiner Frau, einer Christin aus dem Libanon, und sagte, ohne sie wäre er nicht dort, wo er nun sei. Ein Standardsatz in Deutschland. In Kabul: Unfassbar. Er kündigte an, dass seine Frau eine öffentliche Rolle einnehmen und sich um Flüchtlinge und Witwen kümmern werde. Und er sagte, dass es allen Parlamentsmitgliedern von nun an untersagt sei, Regierungsmitglieder in Einzelgesprächen aufzusuchen - um Korruption und Mauscheleien zu vermeiden.

 

Einen Tag nach der Amtseinführung ließ er das Sicherheitsabkommen mit den USA unterzeichnen, dem sich Karsai seit mehr als einem Jahr verweigert hatte. Tags darauf ließ er den Fall der Kabul-Bank neu aufrollen: Sie war 2010 kollabiert, nachdem illegale Kredite in Höhe fast einer Milliarde US-Dollar ausgegeben worden waren. Der Fall wurde damals untersucht, aber Politiker und Geschäftsleute, die involviert waren, kamen davon.

 

Jähzornig. Aufbraußend. Schwierig. Viele Leute, die Ashraf Ghani persönlich kennen, beschreiben ihn so. Er ist bekannt für Wutausbrüche und ein ungezügeltes Temperament. Während der Wahl aber trat er offen und extrem menschlich auf. Manche Freunde (und Anhänger seines Konkurrenten Abdullah Abdullah) mutmaßten, er habe ein Anti-Agressionstraining absolviert. An seiner Stimme habe er auch noch gleich gearbeitet. Früher klang sie quietschig-näselnd, Nun wirkt sie staatsmännisch-erhaben.

 

Nach seiner Jugend verbrachte Ghani die meiste Zeit im Ausland. Er arbeitete für die Weltbank. Er schrieb ein Buch: „Fixing Failed States: a framework for rebuilding a fractured world.“ Er trat 2009 bei der Präsidentschaftswahl an, verlor, und handelte sich den Spitznamen „Mr. Drei Prozent“ ein.

 

Inzwischen ist „Mr. Drei Prozent“ seit 25 Tagen Präsident. Er besuchte Soldaten, Polizisten, Schulkinder und Gefängnisinsaßen. Er traf sich mit Bürgerrechtlern und schlug vor, das Amt des Kabuler Bürgermeisters per öffentlicher Abstimmung zu vergeben. Er empfing den britischen Premierminister David Cameron und den türkischen Ministerpräsidenten Recep Erdogan. Er wiederrief den Bann gegen Matthew Rosenberg, einen Korrespondenten der New York Times, der im August nach einem regierungskritischen Bericht des Landes verwiesen wurde – wegen angeblicher Spionage. Die Beamten, die Ghani bisher eingestellt hat, zeichnen sich mehr durch ihr Können als durch ihre Kontakte aus.

 

Das alles hinterließ Eindruck. Freunde, Bekannte und die Leute auf der Straße erzählen mir, von nun an würde viellecht alles besser werden. Korruption, Wirtschaft, vielleicht sogar der Krieg? Selbst die Tatsache, dass in Kabul momentan soviele Anschläge passieren wie seit vor der Wahl im April nicht mehr, ändert nichts an der neuen Hoffnung.

 

Am Abend nachdem Ashraf Ghani zum Präsidenten ernannt wurde, traf ich mich mit zwei afghanischen Kumpels zum Pizza Essen. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, sagte einer der beiden: „Wir haben die Hoffnung auf die Politik aufgegeben. Seit Monaten kämpfen die nur um ihre Macht. Um das Land kümmert sich keiner. Ich will gar nicht mehr darüber nachdenken. Ich konzentrier mich jetzt auf mein Leben. Sollen die Politiker doch machen, was sie wollen!“ Jetzt sagt er: „Karsai war großartig. Er hat einen guten Job gemacht.“ „Wie bitte?“, widerspricht ihm der andere. „Das ist doch nur Show. Alles, was Karsai letztes Jahr gemacht hat, war doch nur, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sag mir einen Grund, warum er gut war!“ „Weil du und ich noch hier sitzen. Weil wir noch am Leben sind.“

 

Ich bin nicht sicher, ob der Satz überzeugte. Aber es war danach eine ganze Weile lang still.