Kabul, 31. Mai 2014
Vor ein paar Wochen bekam ich Heimweh. Ich dachte an Eis essen und im Biergarten sitzen und meine Familie fehlte mir. Ich erzählte Abdulhai davon, einem guten Freund. Er sagte: „Du hast jetzt eine afghanische Familie – hör auf, traurig zu sein.“ Eine afghanische Familie kommt nicht einfach so. Sie kommt mit Verpflichtungen, selbst wenn es keine „echte“ Familie ist und natürlich niemand vergisst, dass ich ein „Hariji“ bin, ein Ausländer.
Man muss sich regelmäßig blicken lassen (nach drei Tagen kommen erste Nachfragen). Der Umgangston wird etwas rauer, aber Beschimpfungen und Liebeserklärungen nehmen im gleichen Maße zu. Und einmal die Woche, freitags, macht man einen Ausflug. Wenn man sehr beschäftigt ist, dauert der Ausflug nur eine Stunde, aber Absagen kommt nicht in Frage.
Diesen Freitag verabredeten wir, nach Paghman zu fahren, zum Picknick. Paghman ist eine Stunde von Kabul entfernt: Flüsse, Berge, Swimmingpools. Ein beliebtes Ausflugsziel. Und ich war noch nie dort.
Wir treffen uns vor einem der vielen Schwimmbäder in Kabul und nehmen ein Taxi. Der Fahrer schiebt den Automatikschalter auf Drive, drückt aufs Gas und dann rauschen wir so schnell in den Verkehr, dass ich auflache – vor Angst. „Wie weit ist es bis Paghman?“, fragt Nik, „oder fahren wir einfach solange bis wir einen Unfall machen?“ Unsere Freunde lachen.
Drei Minuten später kracht unser Taxi auf ein Polizei-Auto. Beide Fahrer steigen aus, kontrollieren Kratzer und Beulen. In weniger als zehn Sekunden einigen sie sich darauf, dass nichts passiert ist. Und dann fahren sie weiter.
Ich denke, dass der Fahrer nun sicher langsamer wird. Doch ich liege falsch. Irgendwann verhandeln wir, dass wir einen Dollar mehr zahlen, wenn wir zehn Minuten später als geplant ankommen. Langsamer fährt er deshalb nicht, aber wenigstens lässt er nun jedes zweite Überholmanöver aus.
Unterwegs halten wir an ein paar Ständen am Straßenrand: Ein Kilo Kirschen (klein und sauer, weil der Händler für die großen, süßen einen „Wucherpreis“ verlangte), warmes Brot, das in Paghman aus einem anderen Teig gebacken wird als in Kabul, eine Plastiktüte voller Hühnerschenkel, eine gleichgroße Plastiktüte voller Kohlestücke, eine Flasche Brennöl, zwei Wassermelonen, ein Küchenmesser, ein dutzend Limonen und drei Literflaschen Limo.
Während wir auf das Fleisch warten, kommt eine Frau in Burka an unser Fenster und bettelt. „Ich bin krank“, sagt sie, „ich brauche Geld.“ Der Fahrer scheucht sie davon. „Ich wette 100 Dollar, dass du nicht krank bist“, ruft er ihr hinterher. Und dann zu uns: „Die Leute hier in Paghamn sind schlecht. Nicht alle, vielleicht 20 Prozent. Die andern 80 Prozent sind okay.“
Nach etwas mehr als einer Stunde kommen wir an einem riesigen Parkplatz voller Autos an. Wir zahlen dem Fahrer den Extradollar für die bestellte Verspätung, packen den Kofferraum aus und gehen los, um einen Grillplatz etwas abseits vom Trubel zu finden. Statt einem Weg gibt es ein paar Steintrassen über einen breiten Fluss, der sich den Berg herabschlängelt. Irgendwann legen wir eine Decke auf den Boden, starten ein Feuer, spielen Volleyball, machen ein paar Fotos, warten auf das Fleisch. Wir hören ein Dutzend Schüsse und rätseln, ob sie von Taliban oder Jägern stammen (außer mir will niemand so recht an die Jäger-Theorie glauben) und dann kommt ein Sturzregen. Wir flüchten unter ein Wellblechdach, bauen mit Teppichen einen Windschutz und hören dem Regen beim Prasseln zu, während ein paar Jungs aus der Gruppe beim Feuer ausharren und Fleisch braten. Nach einer knappen Stunde hört der Regen wieder auf. Wir essen Hühnchen, das nicht schmeckt und noch halbblutig ist und lachen viel. „Wer heute keine Tränen in sein Herz lässt, hat nie welche drin“, sagt Abdulhai, und meint damit: Mir geht's gut.
Als Nachspeise schneiden wir Wassermelonen auf, die von der Sonne warm und der von der ruckeligen Fahrt matschig geworden sind. Als die zwei Hälften fast leer ausgelöffelt in der Mitte liegen, sage ich zu Nik: „Das wäre ein guter Pakol für dich.“ Der Hut, den die Leute aus der Provinz Panjir tragen. „Lass uns das machen“, sagt Abdulhai. „Wir waschen sie im Fluss, dann haben wir neue Hüte.“ Zehn Minuten später setzt er sich eine triefende, halbe Wassermelone auf den Kopf. Ich muss sofort an Bilder aus dem Vietnamkrieg denken und weil ich weiß, dass Abdulhai sich nichts mehr wünscht als dass der Krieg aufhört, sage ich: „Jetzt seid ihr Krieger der Gewaltlosigkeit.“ Ich mache ein paar Fotos mit dem Handy.
Inzwischen sind wir wieder an dem Parkplatz angekommen. Er ist voller Leute, es ist Nachmittag und alle fahren heim. Nach einer Minute kommt eine Gruppe junger Männer kommt und fragt, ob sie ein Foto machen können. „Wir sind die Krieger der Gewaltlosigkeit“, sagt Abdulhai und posiert mit Nik vor dem Ipad der Männer. So geht es weiter. Jeder, wirklich jeder, an dem wir vorbeigehen, starrt die beiden an. Und fast jeder lacht. Es kommen noch mehr Leute, die Fotos machen wollen, ein paar Schäfer, die gerade zu Mittag essen, springen auf. Ein VW-Bus voller aufgekratzter Jugendlicher, die im Bus Schischa rauchen, hält an. Ein Mann aus einem vorbeifahrenden Auto ruft: „Was ist das für ein Style?“ „Ein neuer!“, ruft Abdulhai. Soldaten, die mit ihren Gewehren auf der Ladefläche eines Pickups sitzen, schauen verwirrt.
Weil wir kein Taxi finden und sowieso alle Autos im Stau stehen, gehen wir erstmal zu Fuß. Noch mehr Leute schauen, lachen, halten an, stellen Fragen und machen Fotos. Irgendwann sagt Abdulhai: „genug für heute“, und schmeißt den Melonenhelm ins Gras.
Am nächsten Nachmittag steigen Nik und ich – wir waren gerade einkaufen in einer der vielen Shoppingmalls in Kabul – in ein Taxi. „Woher kommt ihr?“, fragt der Fahrer. „Aus Deutschland“, sage ich, „und du?“ „Aus Paghman“, sagt der Fahrer. „Da waren wir gestern“, sage ich, „zum ersten Mal. Es ist so schön da!“ „Gestern?“, fragt der Taxifahrer, „da war ich auch in Paghman.“ Nik fragt ihn, ob er zwei Männer mit Wassermelonen auf dem Kopf gesehen hat. „Ja“, sagt der Mann, „das war verrückt, habt ihr die auch gesehen?“ Nik zeigt ihm das Foto, und der Taxifahrer lacht.
In dem Moment schneidet ein Polizei-Wagen dem Fahrer den Weg ab. „Schlechte Leute, hm?“, fragt Nik. Der Fahrer lacht. „Oja!“, sagt er. Und dann: „Wenn Polizisten irgendwann mal gute Menschen sind, dann weißt du, dass es keine schlechten mehr gibt.“