Kabul, 10. Mai 2014
Es ist zwei Uhr nachmittags. Wir sitzen zu acht auf dem Boden, im Kreis. In der Mitte stehen Cola, Sprite, zwei Teller Kuchen - zu Besuch bei den "Afghan Peace Volunteers". Eine Gruppe Jungs, die in einer Kommune leben und aus den verschiedenen Ethnien Afghanistans stammen: Paschtunen, Tadschiken, Hasara. Vor zwanzig Jahren haben sich diese Gruppen bekriegt und wenn heute jemand über die Ethnien hinweg heiratet, nennen die Leute in Kabul das „Mischehe“. Die Jungs leben absichtlich gemischt. „Wenn wir es in einem Haus nicht schaffen, die Grenzen zu überwinden, wie soll es dann im ganzen Land klappen?“, sagt einer von ihnen. Die Peace Volunteers kämpfen mit kleinen Aktionen für den Frieden. Sie unterrichten Straßenkinder, demonstrieren gegen Drohnen, und sammeln säckeweise Müll in öffentlichen Parks. Und sie skypen mit Leuten auf aller Welt, „denn wenn wir Frieden wollen, müssen wir erstmal anfangen, uns wieder zuzuhören.“
Heute sind die Peace Volunteers mit einer Schulklasse aus München verabredet. 9C. In fünf Minuten sollen sie anrufen.
Kleine Vorstellungsrunde: Hakim kommt aus Singapur, lebt seit zehn Jahren in Afghanistan, hat die Afghan Peace Volunteers mitbegründet. Er ist derjenige, der übersetzt, und da dieser Text nicht in Dari und Englisch ist, wird er nicht oft vorkommen. Abdulhai, 18, kann so weit Steine schmeißen wie ich es noch nie gesehen habe. Er hat das als kleiner Junge gelernt, beim Schafe hüten. Einmal hat er eine Burka angezogen, um zu sehen, wie das ist. Er fand es so unbequem, dass er sofort seiner Mutter verbot, sie zu tragen. Sikrullah, 17, spielt Fußball, geht ins Fitness-Studio und ärgert sich, dass er auf Fotos oft ernst aussieht. Fais studiert Journalismus und will den Leuten in Afghanistan erklären, was die Politiker wirklich machen. Sein aktuelles Lieblingswort: amazing. Roz Mohammad ist angehender Ingenieur. Zerrissene Kabel flickt er mit pinken Plastiktüten. Barat Khan ist gerade dabei, Richter zu werden und liebt Blumen. Außerdem trommelt er, zur Not auch auf Teekannen.
„Bring uns was auf Deutsch bei!“, sagt Hakim, als wir auf den Anruf warten. Guten Tag. Wie geht's? Die Mädels schicken Bilder aus ihrem Computerraum in München. Die Jungs in Kabul finden, sie sehen gut aus. „So frisch“, sagt einer – „nicht so kaputt wie wir.“ Dann rufen die Mädels an.
„Hi“, rufen sie und winken.
„Guten Tag, wie geht's`?“, rufen die Jungs in Kabul. „Guten Tag, Guten Tag, Guten Tag, Tag, Tag“, sagt Barat und trommelt. Aus den Lautsprechern in Kabul dröhnt Applaus.
Die Mädels erzählen von sich, sie fragen nach dem Zuhause der Jungs und nach ihren größten Wünschen (Krieg beenden! Visa abschaffen!).
Dann fragt Abdulhai (der mit der Burka): „Wie viele von euch haben schonmal darüber nachgedacht, nach Afghanistan zu reisen?“ Stille. Nach einer Weile: „Unser Lehrer, aber wir nicht.“
„Warum nicht?“, fragt Abdulhai. Und Sikrullah, der grimmig drein schauende Fußballer: „Habt ihr Angst?“
„Ja, ein bisschen. Wegen dem Krieg.“
Die Jungs erzählen, dass die Mädels in Afghanistan mehr sehen würden als den Krieg. „Ihr könntet den Amir-See besuchen und Bamyan, ihr könntet etwas über die Geschichte Afghanistans lernen.“ „Und ihr würdet viele Geschichten hören“, sagt Abdulhai. „Geschichten erzählen ist hier eine große Tradition.“
„Süß!“ sagt eins der Mädchen, „in welcher Sprache?
„Dari oder Paschtu.“ „Und was für Geschichten?“ „Alle möglichen.“ Fais, der Journalist, erzählt eine Geschichte von einem König, der zwei Schlangen auf seinen Schultern hatte und jeden Tag einen Dorfbewohner als Opfer für die Tiere verlangte.
Dann fragt Roz Mohammad, der Elektriker: „Was denkt ihr darüber, dass deutsche Soldaten in Afghanistan sind?“
„Wir wollen diesen Krieg nicht und wir wollen nicht, dass unsere Soldaten in Afghanistan kämpfen und sterben.“ Die Verbindung bricht ab. Ein paar Minuten später funktioniert das Internet wieder. „Es gibt gutes und schlechtes daran“, sagt ein Mädchen. „Das Gute, denken wir, ist, dass die Soldaten für den Frieden kämpfen – das Schlechte ist, dass sie sterben."
„Ich glaube, dass es Kämpfen für den Frieden nicht gibt“, sagt Roz. „Wenn jemand umgebracht wird, gibt es immer neue Leute, die andere Leute umbringen wollen.“
„Das stimmt“, sagt ein Mädchen in München. „Was denkt ihr darüber?"
Abdulhai antwortet: „Ich will, dass der Krieg aufhört, in Afghanistan und auf der ganzen Welt. Mein Vater wurde von den Taliban umgebracht. Jede Familie in Afghanistan hat jemanden im Krieg verloren. Aus Krieg kann nichts Gutes entstehen.“
„Ja, das stimmt“, sagt das Mädchen. „Habt ihr schonmal einen Anschlag erlebt?“
„Erzähl deine Geschichte!“, sagt Fais zu Roz. „Erzähl, erzähl!“, ruft Hakim.
Roz erzählt von zwei Klassenkameraden, die bei einem Helikopterangriff gestorben sind, von seinem Schwager, der von einer Drohne getötet wurde und von einer Explosion in Kabul, in der Nähe ihres Hauses. Er ist der einzige, der etwas sagt, aber alle im Raum, außer uns, haben ähnliche Geschichten: Fais Bruder wurde vor seinen Augen erschossen; Barat war dabei, als eine Bombe einen afghanischen Polizisten zerfetzte.
„Wie fühlt ihr euch dabei?“
„Wir sind sehr traurig“, sagt Abdulhai.
Es gongt. „Ist das eine Kirche?“, fragt Hakim, der Übersetzer.
„Es ist jetzt fünf nach eins“, sagt eines der Mädchen. „Die Schule ist aus, aber wir bleiben noch.“ „Wer passt auf die Kinder auf, wenn die Eltern gestorben sind?“ fragt ein anderes Mädchen. Die Jungs erklären, dass es viele Straßenkinder gibt, dass sie schon mit vier, fünf Jahren arbeiten und oft als Kriminelle oder Drogenabhängige enden. Und sie erzählen, dass sie 21 Straßenkinder unterrichten.
„Das ist gut“, sagt eines der Mädels. Und die Lehrerin: „Einige hier sind gerade sehr ergriffen. Das ist doch was anderes, wenn du etwas in den Nachrichten siehst, oder wenn du mit jemandem sprichst, der das selbst erlebt. Das geht sehr nah.“
„In den Nachrichten klingt es immer so, als wären wir Wilde“, sagt Sikrullah. „Aber wir sind ganz normale Menschen.“
„Jetzt lasst uns mal über was Fröhlicheres sprechen“, sagt ein Mädchen. „Was wisst ihr über Deutschland?“
„Ich weiß dass Deutschland sich sehr entwickelt hat inzwischen“, sagt Roz. „Dass es keinen Krieg mehr gibt und Deutsche nett sind.“ „Ich hab gelesen, dass die meisten Deutschen Christen sind“; sagt Abdulhai.
„Oh ja, das stimmt“, sagt das Mädchen. „Kennt ihr das Oktoberfest?“
Stille. Kopfschütteln. Fragende Blicke. „Das kennt keiner hier“, sage ich. „Ist mir außer in Afghanistan auch noch nie passiert. Vielleicht könnt ihr erklären, was es ist.“ Im nächsten Moment bereue ich es schon. Denn natürlich geht es um Bier.
Die Mädels enden mit „aber es gibt auch viele Leute, die nicht ganz so betrunken sind. Es gibt auch Fahrgeschäfte dort, die Leute kommen aus der ganzen Welt und die Bayern tragen Trachten.“ Ich versuche zu erklären, was Trachten sind und verspreche, Fotos zu zeigen. Ich denke an ein Durchschnitts-Dirndl-Dekolleté und bereue schon wieder etwas.
„Wir hoffen, euch gefällt das Oktoberfest“, sagt Hakim, „hier ist Bier verboten.“
„Oh nein“, sagt ein Mädchen, „gibt es überhaupt kein Bier?“
„Nur Cola.“
„Ach ich mag auch Cola“, sagt das Mädchen.
„Und Tee gibt es auch“, sagt Hakim.
Die Mädchen lachen. „Irgendwann“, sagt eine, „kommen wir zu euch und trinken Tee. Und ihr kommt zu uns und trinkt Bier.“