München, 30. Dezember 2014
Seit ein paar Tagen schneit es. Um mich rum sind die Dinge stiller geworden, langsamer, ruhiger. Nur ich bin es nicht. Seit zwei Wochen bin ich nun in Deutschland, aber mein Kopf steckt noch irgendwo zwischen Kabul und München fest. Mein Herz auch.
Drei Tage nach meiner Ankunft bekam ich eine Nachricht von einem Kumpel, der vor ein paar Monaten aus Kabul verschwunden war. „Ich bin in deinem Land!“, schrieb er mir, „ruf mich an!“ Der Kumpel ist ein junger Künstler, ich hatte oft über ihn geschrieben. Nun lebt er in einer Sammelunterkunft für Flüchtlinge in Norddeutschland. Als ich ihn fragte, ob er irgendwas brauche, sagte er: Einen Anwalt. Ein Buch zum Deutschlernen. Und falls du ein paar Künstler in der Nähe kennst, mit denen ich mich mal treffen könnte?
Sechs Tage nach meiner Ankunft erfuhr ich, wofür die Abkürzung „Pegida“ steht. Zuerst hielt ich es für einen
Witz.
Sieben Tage nach meiner Ankunft landete ein guter Freund aus Faisabad – einer kleinen Stadt in Nordafghanistan mit zwei geteerten Straßen – am Flughafen in Frankfurt; gemeinsam mit seiner Frau und ihren drei Kindern: zwei, vier und sechs Jahre alt. Der Freund ist ein ehemaliger Übersetzer der Bundeswehr. Er wurde wegen seines Jobs bedroht, hatte das letzte Jahr damit verbracht, ein Visum für Deutschland zu beantragen und die letzten Monate nicht mehr zuhause geschlafen. Ich wollte ihm ein paar Kleinigkeiten mitbringen und ging in einen deutschen Supermarkt. Der Supermarkt überforderte mich, genauso wie die Frage, was man eigentlich braucht, wenn man sein Leben in drei Koffer packt und in ein Land fliegt, in dem nichts nichts nichts so ist wie zuhause. Im Einkaufskorb landeten: Eine Zimmerpalme, ein glitzerndes Plastik-Rotkehlchen. Lebkuchen. Schokolade. Eine Simkarte für's Handy. Ein Adapter für deutsche Steckdosen. Zwei Regenschirme. Grüner Tee. Schwarztee. Taschentücher. Drei Überraschungseier. Ein Laib frisches Brot. Eine Packung Salz.
Der Freund und seine Familie landeten um fünf Uhr nachmittags. Draußen war es dunkel. Es regnete in Strömen. Deutschland halt. Terminal 1. Gate 3. Das Flugzeug landete pünktlich, aber der Freund kam eine Stunde lang nicht. Wir trafen eine Frau und einen Mann vom Amt, die gekommen waren, um die Familie abzuholen und – so hatte der Freund es verstanden – in ihre Wohnung bringen würden. An Gate 3 erfuhren wir, dass die Familie erst einmal in eine Notunterkunft gebracht werden würde. Nur für eine Nacht, sagte die Frau. Und wie geht's dann weiter? Das weiß ich nicht, das ist eine andere Kostenstelle. Sie sagte uns, dass wir ohne Sondergenehmigung nicht mitkommen könnten in die Notunterkunft und dass wir diese Sondergenehmigung 24 Stunden im Vorhinein beantragen hätten müssen. Irgendwann kam der Freund und seine Familie dann. Mit zwei Schiebewagen, drei Koffer, zwei Taschen für die Kinder, einen in Folie verpackten Druckkochtopf. Und einem Mann an ihrer Seite. „Wir haben die ganze Zeit drinnen gewartet!“, erzählt der Freund, „wir wussten nicht, dass ihr nicht reindürft!“ „und ich hab ihnen erklärt, dass sie Geld für die Schiebewagen brauchen. Und weil sie keine Euro hatten, hab ich ihnen das Geld geliehen.“ Wir lachen und geben ihm das Geld zurück. Dann verabschiedet er sich mit „Khoda hafez“ Möge Gott dich beschützen – auf Dari. Wir schauen ihn fragend an. „Meine Nachbarn sind alle Afghanen!“ ruft er und dann ist er weg.
Am nächsten Tag wird unser Freund abgeholt, von einem Amt zum nächsten gebracht und am Abend haben seine Familie und er den Schlüssel für ihre neue Wohnung. Weil er für die Bundeswehr gearbeitet hat, hat er einen anderen Aufenthaltsstatus als Asylbewerber. Er darf arbeiten und er darf in alle Bundesländer reisen. Als wir am ersten Abend zuhause auf ihrem mitgebrachten Teppich sitzen und Abend essen, erzählt der Kumpel von der Notunterkunft. „Stell dir vor, Ronja“, sagte er, „manche waren dort schon seit Wochen. Man darf nicht rausgehen. Das ist wie ein Gefängnis. Ich wollte nur die Tür aufmachen, um zu schauen, was dahinter ist, da kam gleich ein Wächter. Da waren so viele Leute aus Syrien, aus Afghanista, von überall. Als ich denen gesagt habe, dass ich gleich am nächsten Tag wieder gehe, konnten die das gar nicht glauben.“ Dann erzählt er von den Kämpfen in seiner Provinz, die in den letzten Monaten immer stärker geworden sind. „Schon komisch, oder?“, sagt er, „dass hier lauter Leute leben, die so etwas noch nie erlebt haben!“
Acht Tage nach meiner Ankunft fuhr ich von einer Stadt in eine andere, alleine, mit dem Zug, ohne darüber nachzudenken, ob das vielleicht gefährlich sein könnte. Ich kann mein Glück nicht fassen.
Neun Tage nach meiner Ankunft erklärte mir eine Frau im Zug, dass sie die Deutsche Bahn gestrichen dick hat, weil die Fahrpläne so kurzfristig geändert werden und das dann nicht „ordnungsgemäß ausgehängt“ werde. Überhaupt sei sie nur mit dem Zug gefahren, weil die Lokführer angekündigt hatten, bis 11. Januar nichtmehr zu streiken. „Es sind ja schon Zustände wie in Italien“, sagt sie.
Zwölf Tage nach meiner Ankunft stand ich auf einer Demo in München, gegen Pegida, für Flüchtlinge und Menschlichkeit. Ich hatte davon gelesen und mir vorgenommen, meine Freunde zu überreden, mitzukommen. Aber die wussten schon alle davon. Nachmittags hatten mein bester Freund und ich mit Autolack auf Leintücher gesprüht: „Alle Menschen sind Ausländer, irgendwo. Alle Rassisten sind Arschlöcher, überall.“ Und: „Pegida-Anhänger können nichts dafür, dass sie dumm sind. Sie sind in Deutschland zur Schule gegangen.“ Noch bevor wir die Banner ausgerollt haben, fragt uns ein Mann, ob wir denn keine Angst vor Unruhen in Deutschland hätten – wegen der ganzen Zuwanderer. Ich werde wütend und drehe mich weg.
Weil die Plakate, die mein bester Freund und ich gemacht haben, ziemlich groß sind, finden uns alle, die uns kennen, sofort. Eine Bekannte ist mit ihrer dreijährigen Tochter gekommen. Als die sich darüber beschwert, dass es kalt ist, sagt die Bekannte: Weißt du, demonstieren ist vielleicht nicht immer schön, aber es ist eine wichtige Bürgerpglicht – und das kann man nicht früh genug lernen.“ Irgendwann klettern wir auf einen Laternenpfahl und machen Fotos von den ganzen Leuten, die gekommen sind. Es sind fast 20.000. Ich sehe ein paar Polizisten, aber keine Maschinengewehre. Nirgendwo sind Soldaten, nirgendwo Panzer, Stacheldraht, Sicherheitsmauern. Ich mag München, denke ich. Für einen Moment mag ich sogar Deutschland. Knapp zwei Wochen, nachdem ich zurückgekommen bin, ist das die größte Überraschung.