Kabul, 5. Juli 2014
Es ist Sommer geworden in Afghanistan. Meine Freunde sagen, Kabul ist eine der erträglicheren Städte. Aber für mich ist es heiß. Sehr heiß. Und: unser Haus nicht klimatisiert.
Jeden Morgen wache ich schweißgebadet auf. Ich dusche mit kaltem Wasser, trinke heißen Tee und schleppe mich träge durch's Haus, um den am wenigsten stickigen Ort zu finden. Früh morgens ist es der schattige Teil der Terrasse, ab etwa zehn Uhr das Wohnzimmer.
Dort sitze ich nun auf ein paar Kissen am Boden. Neben mir hechelt unser Hund, der neuerdings den ganzen Tag schläft. Ich würde es gerne genauso machen, aber stattdessen trinke ich den zweiten Liter heißen Tee und beantworte E-Mails, die darauf seit Wochen warten.
Es kracht, ziemlich laut. „Scheiße“, sage ich. Zu mir, zum schlafenden Hund, zur Teekanne. Sonst ist niemand im Raum. Es kracht nochmal, deutlich lauter. „Fuck!“, rufe ich und ärgere mich: eigentlich habe ich mir vorgenommen, in der Nähe unserer Haushälterin nicht zu fluchen. Sie kommt ins Zimmer. „Das war nah, glaub' ich“, sagt sie. „Vielleicht das Innenministerium?“ Es ist ein paar Straßen weiter und als vor zwei Monaten ein Anschlag dort war, klang es ähnlich. Die Haushälterin sagt: „Ich geh mal raus und schau nach, wo es war.“ „Bist du verrückt? Auf keinen Fall, setz' dich hin!“ Sie lacht und setzt sich hin. Dann sagt sie: „Ich weiß wirklich nicht, warum alle immer so viel Angst auf den Straßen haben. Es kann uns doch überall treffen, auch in den Häusern. Wenn wir sterben sollen, dann sterben wir eben.“ Ich will ein Sprichwort erwidern, das mir neulich ein Freund beigebracht hat, aber mir fällt nur die deutsche Übersetzung ein: Vertrau auf Gott, aber binde dein Kamel an. Stattdessen sage ich nochmal: „Bleib lieber hier.“ „Dann mach aber den Fernseher an!“, sagt die Haushälterin. Doch das geht nicht. Der Hund hat das Kabul zerbissen. Also mache ich, was ich immer mache nach einem Anschlag: bei Twitter suchen. #Kabul.
Ein Foto mit Hausdächern und Rauch. Angeblich in der Nähe vom Flughafen. Nicht so nah wie ich dachte. Eigentlich überhaupt nicht nah. „Gibt's noch mehr?“, fragt die Haushälterin. Ich klicke alle paar Sekunden auf „aktualisieren“. Nach und nach kommen mehr Neuigkeiten: Die Explosionen waren auf dem militärischen Teil des Flughafens. Zwei Raketen sind eingeschlagen. Ein Flugzeug wurde zerstört. Niemand ist gestorben. Die Taliban übernehmen Verantwortung. „Wenigstens ist diesmal keiner gestorben“, sage ich. Und weil ich die Stimmung etwas auflockern will: „Das ist doch eine gute Nachricht.“ Die Haushälterin nickt. „Darfst du eigentlich Wasser trinken, wenn es eine Explosion gab?“, frage ich, „wegen dem Schreck?“
Vor einer Woche hat der Fastenmonat Ramadan begonnen und von morgens früh bis abends um viertel nach sieben isst und trinkt unsere Haushälterin nichts. Sie ist klein und zierlich und ich habe ständig Angst, dass sie umfällt. Jeden Tag suche ich neue Ausreden, warum sie vielleicht trotzdem trinken könnte. „Wenn du ein kleines Glas Wasser trinkst, vielleicht sieht Gott das gar nicht“, habe ich am Tag zuvor gesagt. „Es geht doch nicht um Gott, er hat die Regeln nicht gemacht. Die Leute hier haben die Regeln gemacht.“ „Aber die sehen es doch auch nicht.“ „Ich will nicht, dass jemand schlecht über mich redet.“ Ich habe keine Chance. Auch nicht jetzt, eine halbe Stunde nach dem Raketenangriff.
Die Haushälterin lacht. Genauer gesagt lacht sie mich aus. Nach ein paar Sekunden Schnapp-Atmung sagt sie: „Ronja! Dann könnten wir ja jeden Tag Wasser trinken.“ Wir lachen beide. Dann erzählt sie mir von ihrem Ehemann. Die Taliban haben ihn vor 15 Jahren getötet. Sie hat mir schon öfter davon erzählt, aber an diesem Tag ist es das erste Mal, dass ich alle Worte verstehe.
Der Ehemann war damals auf dem Markt, gemeinsam mit dem Schwager der Haushälterin. Die beiden wollten etwas Kleidung einkaufen, für sich und für ihre Frauen. Dann wurden sie ermordet. Den Mann der Haushälterin trafen drei Kugeln: in die Brust, in die Schulter, in den Kopf. Der Schwager wurde geköpft und die Angreifer schnitten beide Hände ab. „Hast du ihn so gesehen?“, frage ich. „Ja“, sagt sie und reibt sich die Stirn. Sie erzählt, dass er drei Tage zuhause aufgebahrt wurde. Dass seine Haut weiß war, als sie ihn das erste Mal sah. Dass sein ganzes Blut aus dem Körper geflossen sei. Und seine Kleidung rot getränkt. Während sie erzählt, sagt sie nicht „mein Mann“. Sie sagt: mein Liebling.