10. Oktober 2013
Ich wohne in einem Haus, das von vier Männern bewacht wird. Durch das Guckfenster einer Eisentür prüfen sie jeden Besucher, sehr gewissenhaft. “Was willst du hier?” “Ich wohn hier, ich bin Ronja.” “Du wohnst hier nicht.” “Doch, ich bin neu. Ronja.” “Nein, du wohnst hier nicht.” “Doch, ich bin neu.” “Okay, komm rein. Sorry. ” – Es gibt ein paar Dinge, die anders sind, seitdem ich in Kabul lebe.
Ich bin nicht irritiert, wenn vor mir Polizisten mit Maschinengewehren stehen. Ich bin nicht irritiert, wenn vor mir Leute mit Maschinengewehren stehen, die keine Polizisten sind.
Ich klopfe auf Holz und sage bescheuerte Sätze wie “knock on wood”. Ich schäme mich deswegen, aber dann mach ich es doch wieder.
Ich habe keinen Sex. Dafür trage ich einen Ehering. Kopftuch. Und lange Ärmel.
Ich fahre acht Mal am Tag Taxi, weil spazieren mir in den meisten Vierteln zu gefährlich erscheint. Ich stehe stundenlang im Stau. Meine Augen tränen, mein Hals kratzt und meine Nase verstopft vom Staub der Straße, der neben der Stadt auch meine Schleimhäute erdrückt. Abends steige ich dann auf ein Laufband – aus Angst, dass ich mich sonst gar nicht mehr bewege.
Ich werde andauernd von Fremden fotografiert.
Ich mache mich beliebt damit, aus Deutschland zu kommen.
Aber niemand kennt Bayern.
Ich rauche nicht – gehört sich nicht als Frau. Ich denke darüber nach, was sich gehört als Frau. Ich denke darüber nach, dass ich eine Frau bin.
Ich denke darüber nach, was andere von mir wissen sollten und was nicht. Ich denke darüber nach, was ich sagen soll. Dann denke ich darüber nach, wie ich es sagen soll.
Ich lüge. Immer nur ein bisschen, aber jeden Tag: Ich trinke keinen Alkohol.
Mehrmals täglich stelle ich fest, dass ich nicht die Witzigste in einer Runde bin. Nicht mal ansatzweise.
Ich rangiere zwischen drei Wochenenden: Für die Afghanen ist Donnerstag Samstag und Freitag Sonntag. Für die Westler in Kabul ist Freitag Sonntag und Samstag Samstag. Für deutsche Redaktionen ist Samstag Samstag und Sonntag Sonntag. Die einzigen Tage, an denen mich das nicht verwirrt, sind Montag, Dienstag und Mittwoch.
Wenn ich sage, für wen ich schreibe, blicke ich in fragende Gesichter.
Wenn ich anderen Westlern erzähle, dass ich mich an keine Sicherheitsvorschriften halten muss, dass ich auf der Straße laufen, ein Taxi nehmen und in jedes Restaurant gehen darf, schütteln sie den Kopf.
Wenn ich ihnen sage, dass ich wirklich gern hier bin, glauben sie mir nicht.
Ich habe weniger Mitleid. Vielleicht, weil ich Angst habe vor der Hilflosigkeit, die mich sonst verschlucken würde, wenn ich die vielen obdachlosen Kinder sehe; die Frauen, die mit einem Baby im Arm in den Abgasen der Straße stehen und betteln; den Mann, der das Ende seines Armstumpfes an mein Autofenster presst und um Geld bittet; den Beinlosen, der mitten im Feierabendverkehr über die Straße kriecht.
Ich trinke kein Leitungswasser.
Jedes Mal, wenn ich in den Supermarkt gehe, werde ich durchsucht.
Ich zahle zehn Dollar für eine Packung Müsli.
Ich schreibe eine Kolumne.