Kabul, 16. Mai 2014
Liebe Leser, ich muss Sie warnen: dies ist eine wütende Kolumne. Wenn Sie keine Lust auf Wut haben, verstehe ich das - ich selbst bin auch kein großer Fan von Wut -, aber dann müssen Sie nächste Woche wiederkommen. Heute bin ich wütend.
Neulich saß ich mit einem befreundeten Arzt in Kabul beim Abendessen. Er erzählte von einem afghanischen Soldaten, der den Job gewechselt hatte, weil er nicht mehr kämpfen wollte, den dann aber die Erinnerungen an den Krieg nicht losließen. Am Ende sagte der Arzt: “Weißt du, in einer Sache irrt sich die medizinische Welt: Eine posttraumatische Belastungsstörung ist keine Störung. Es ist eine ganz normale Reaktion, auf die Brutalität und die Gewalt, die man im Krieg erlebt. Würde jemand nicht reagieren – das wäre die Störung. Denn das würde heißen, dass er nichts mehr fühlt.”
Ich fand er hatte Recht und postete sein Zitat bei Twitter. 36 Leute retweeteten, so viele wie niemals zuvor. (Inzwischen hat das Foto einer etwas unglücklichen Bildunterschrift mit 227 Retweets aufgeholt. Es ging darin um Babys, Ferkel und Kastrieren).
Zwei Wochen später postete ich einen Artikel, den ein Kollege in der FAZ geschrieben hatte. Er handelte davon, wie Deutschland mit seinen Elitesoldaten umgeht (nicht besonders gut) und am Rande auch davon, wie es diesen Elitesoldaten nach ihren Einsätzen geht (auch nicht besonders gut). Ein Mann aus Deutschland antwortete: „Komischerweise brauchten die Teilnehmer von ww2 keine [Therapie] und sind trotzdem klargekommen“ Ich antwortete, dass ich das für einen ziemlichen Quatsch hielte. Er schrieb: „Warum? Die Leute hatten Schlimmes erlebt und sind klargekommen. Besser als die heutige 'Generation Weinerlich'.“ Und: „Ich habe den Eindruck, daß die Afghanen mit dem Dauerkrieg besser klarkommen als die Besatzersoldaten.“
Ich wurde wütend. Ich bin nicht dafür bekannt, dass ich schnell weine, aber in diesem Moment schossen mir Tränen in die Augen, so wütend war ich. Abends lag ich im Bett und konnte nicht einschlafen.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch, bei dem mir ein hochrangiger Bundeswehr-Soldat erklärt hatte, für die Afghanen hätte der Tod von Familienmitgliedern ja eine ganz andere Bedeutung als für uns Deutsche. Ich fragte ihn damals, ob er schon einmal eine afghanische Familie getroffen hätte, die jemanden verloren hat. Er sagte nein. Ich sagte, dass ich mehrere Familien getroffen hätte und dass mein Eindruck ein anderer sei. Daraufhin er: Das ist dann ihre Meinung – meine ist eine andere.
Irgendwann schlief ich doch ein und am nächsten Morgen beschloss ich, mich nicht weiter zu ärgern. Bringt ja nichts.
Gestern ist es dann wieder passiert: Jemand schrieb mir, für die Afghanen sei Gewalt Alltag. Sie hätten sich daran gewöhnt. Sie kämen damit klar.
Ich wurde wieder wütend. Und ich spürte den Drang, einmal ausführlich zu erklären, warum: Sätze wie diese machen mich wütend, weil sie unterstellen, dass Afghanen eine andere Spezies Menschen sind. Menschen, die schon irgendwie damit klarkommen, wenn ihr Bruder explodiert oder ihr Vater erschossen wird. Vor allem unterstellt es, dass es Menschen gibt, die den Krieg ganz gut aushalten. Ist es dann noch so schlimm, Krieg zu führen? Wo die Menschen ihn ja irgendwie vertragen?
Ganz abgesehen davon: die Menschen in Afghanistan kommen nicht klar. 67 Prozent der afghanischen Bevölkerung leiden an Depressionen – und das sind noch die offiziellen Zahlen des Gesundheitsministeriums, sehr wahrscheinlich sind es mehr.
Ich kenne Leute, die Albträume haben; die nachts immer wieder sehen, wie ihr Bruder bei einer Explosion stirbt. Die im Schlaf schreien. Ich kenne Leute, die jedes Mal weinen, wenn sie über den Tod eines Freundes reden und solche, die abends beim Einschlafen beten, dass sie morgens wieder aufwachen. Ich kenne Leute, die trinken gegen den Schmerz, die Opium rauchen oder Heroin spritzen. Ich kenne Leute, die mit ihren Fäusten und Köpfen immer wieder gegen die Wand schlagen, damit der Schmerz endlich weggeht und ich kenne Leute, die versucht haben, sich umzubringen, weil sie mit dem Stress nicht klarkommen, den dieser „Dauerkrieg“ mit sich bringt.
Es stimmt nicht, dass die Leute in Afghanistan die Gewalt aushalten – sie haben nur einfach keine andere Wahl. Sie machen weiter mit ihrem Alltag, weil sie gelernt haben, dass man das muss, um zu überleben. Es gibt hier keine staatlichen Systeme, die Menschen in Not helfen, wie wir es von Deutschland gewohnt sind.
Warum sollte der Tod eines Einzelnen weniger schlimm sein, nur weil um einen herum noch viele andere sterben? Das sehen nur wir so: In einem Land, in dem jedes Jahr Tausende getötet werden – was sind da schon ein, zwei mehr? Es gibt Nachrichtenagenturen, die eine fixe Mindestgrenze an Toten haben – davor berichten sie nicht über Anschläge in Afghanistan.
Vielleicht gewöhnt man sich an Panzer, an Waffen und den Klang einer Explosion. Aber man gewöhnt sich nicht daran, dass ein Freund zerfetzt wird, dass ein Vater von einer Drohne getötet wird oder ein Kind bei einem Luftangriff stirbt. Man gewöhnt sich nicht daran, Angst um seine Familie zu haben.
Die einzigen, die sich an den Krieg in Afghanistan gewöhnt haben, sind wir, die ihn nur aus den Nachrichten kennen. Wir sind weit genug weg.