AUSWEIS DER HOFFNUNG

3. April 2014

 

Fünf Tage bevor Afghanistan wählt, haben ein paar junge Leute in Kabul eine Konferenz organisiert. Sie heißt »Deine Hoffnung«. Die Organisatoren haben 1001 Afghanen aus 20 Provinzen gefragt, was sie sich vom nächsten Präsidenten wünschen, jetzt zeigen sie die Videos: »Seit die Taliban nicht mehr an der Macht sind, hat sich vieles zum Guten geändert. Aber von unserer neuen Regierung erwarten wir mehr, vor allem soll sich der Präsident um die Straßenkinder kümmern.« »Er soll für Frieden und Stabilität sorgen und nicht so einäugig urteilen wie es die derzeitige Regierung tut.« Und: »Ich hoffe, er bemüht sich, das Land für alle zu verbessern, nicht nur für eine Ethnie oder einen Stamm. Wir wollen ein vereintes Afghanistan.«

 

Die Konferenz endet mit einer Testwahl: Jeder Teilnehmer hat eine Stimme, etwa die Hälfte macht mit. Am Ende werden alle Zettel vorgelesen. Sie gehen an die vier Kandidaten, die auch bei der echten Wahl die Favoriten sind: Abdul Rassaf Sayyaf, der islamistische Hardliner, bekommt nur wenige Stimmen und so gut wie keinen Applaus. Ähnlich ergeht es Salmai Rassul, dem ehemaligen Außenminister. Obwohl er nicht so beliebt ist, glauben viele Afghanen, dass er gewinnen wird, weil er ein Vertrauter von Präsident Karsai ist.

 

Mehr Applaus bekommt der frühere Finanzminister Ashraf Ghani. Er hat versprochen, als Präsident alle Talibankämpfer aus dem Gefängnis Bagram zu entlassen. Am lautesten klatschen die Teilnehmer, als der Name Abdullah Abdullah fällt: Er war Karsais größter Herausforderer bei der Wahl 2009 und ist der einzige von elf Kandidaten, der (zur Hälfte) tadschikisch ist, also der zweitgrößten Ethnie des Landes angehört. Alle anderen sind Paschtunen.

 

»Wir können das Ergebnis nicht bekannt geben«, sagt einer der Veranstalter, »es ist nicht repräsentativ«. Er unterstützt Ashraf Ghani. Der zweite Veranstalter – er ist für Abdullah Abdullah – setzt sich durch. Er gibt bekannt, dass Abdullah Abdullah gewonnen habe. Die Fans jubeln. Die Gegner rufen dazwischen. Tumult. Obwohl es bei der Probewahl um nichts geht, geht es um alles.

 

Die Wahl. Seit Monaten wurde auf sie hingefiebert, wurde gehofft, dass sie stattfindet und ausgemalt, was kommt, wenn Präsident Karsai endlich weg ist und sein Nachfolger dafür gesorgt hat, dass die NATO im Land bleibt – alle Kandidaten versprechen, das entscheidende Abkommen mit den USA zu unterzeichnen, gegen das sich Karsai gewehrt hatte. Ausländische Geschäftsmänner werden in Afghanistan investieren, die Leute werden Geld ausgeben und die Preise auf dem Bazar endlich wieder sinken.

 

In den Tagen vor der Wahl spricht fast niemand über diese Hoffnungen. Grund dafür ist die Gewalt: In den vergangenen zwei Wochen haben die Taliban vier Mal in Kabul angegriffen: Zwei Mal das Büro der Wahlkommission, ein Hotel und eine amerikanische NGO. Die Angreifer töteten 15 Menschen. Jedes Mal kämpften die afghanischen Spezialkräfte stundenlang.

 

»Seit ein paar Tagen sehe ich in jedem Auto, das an mir vorbeifährt, einen Attentäter«, schreibt mir ein Freund auf Facebook. »Bei jedem Polizisten frage ich mich, wann er getötet wird.« – »Ich hoffe, es wird nach der Wahl besser «, antworte ich. Dann lädt er mich zur Verlobungsfeier eines gemeinsamen Freundes ein.

 

Männer und Frauen feiern getrennt. Ich sitze mit zehn Fremden an einem Tisch. »Was für ein scheiß Ort«, sagt meine Nachbarin. Erst denke ich, dass sie das Hotel meint. »Nein«, sagt sie. »Ich rede von Kabul.« Ihr Lehrer ist gestern bei einem Anschlag gestorben. Am nächsten Tag fragt unsere Putzfrau, wie die Feier war. „Ich glaube, die Leute hatten Angst“, sage ich, „du auch?“ Sie trocknet einen Teller ab. Dann sagt sie: »Die Taliban haben vor 15 Jahren meinen Mann umgebracht. Ich will keine Angst mehr vor ihnen haben.« Mit den Anschlägen kommt auch die Vergangenheit zurück.

 

Es erschreckt mich, zu sehen, wie schnell die Stimmung kippen kann. Nach dem Angriff auf das Hotel schrieb ein afghanischer Journalist, die Taliban wollten nur Präsenz zeigen, jetzt wo Afghanistan ein letztes Mal in internationalen Medien auftauche - kein Grund zur Panik.

 

Ein französischer Journalist, der seit zwei Jahren aus Kabul berichtet, bekam einen Anruf von seiner Redaktion: Er solle abreisen, am nächsten Tag. Er stand in dem Moment in meinem Zimmer. »Ich versteh das nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf, »ich will doch gar nicht weg.« Er zog nach Dubai und schreibt seither düstere Texte über Afghanistan.

 

»Es sieht hier langsam nach Bagdad aus. #Kabul«, twitterte diese Woche der Bürochef der Washington Post. Afghanische Journalisten zeterten solange, bis er schrieb, das sei vielleicht etwas überspitzt gewesen. Aber da hatten schon zwei Dutzend westliche Nutzer seinen Tweet weitergeleitet.

 

Für viele Medien ist die Wahl die Lupe, durch die sie Afghanistan beobachten. Aber das Ergebnis, das erst in ein paar Monaten feststehen wird, entscheidet nicht über das Schicksal des Landes . Wichtiger ist, dass die Wahl überhaupt stattfindet. Dass nicht zu offensichtlich betrogen wird und dass nicht zu viele Menschen sterben.

 

Es ist wichtig, dass Karsai abtritt und ein anderer das Land regiert. Egal, welcher der Favoriten es sein wird - Rassul, Ghani oder Abdullah – er muss mit Problemen kämpfen, die größer sind als jedes Wahlprogramm. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Industrie ist quasi nicht vorhanden und die Rohstoffe, die es gibt, können kaum abgebaut werden, weil Sicherheit und Infrastruktur fehlen. 65 Prozent der Bevölkerung sind unter 25, die meisten von ihnen haben keinen Job. Das hilft den Aufständischen bei der Rekrutierung.

 

Auf dem Rückweg von der Konferenz komme ich an einem Registrierungszentrum für die Wähler vorbei. Die Warteschlange ist lang. Obwohl der Ort ein potentielles Ziel der Taliban ist und obwohl die Menschen oft stundenlang, manchmal sogar Tage warten müssen, bis sie einen Ausweis bekommen, mit dem sie ihre Stimme abgegeben dürfen. Angst vor der Zukunft und die Hoffnung auf einen Neuanfang – in Kabul kann man das nicht trennen.