24. Oktober 2013
Mein Visum gilt für 30 Tage. Derzeit verbringe ich 14 Stunden täglich damit, es zu verlängern. Es fühlt sich zumindest
so an.
Ich kenne inzwischen acht Leute im Außenministerium mit Namen. Ich habe gelernt, dass das Innenministerium drei Eingänge in drei
verschiedenen Straßen hat und es geholfen hätte, wenn ich gewusst hätte, welchen davon ich brauche. Ich weiß, wo die Passbehörde ist (am andern Ende der Stadt) und dass man dort nicht nachmittags
um eins, sondern morgens um sieben erscheinen muss. Man sollte viel Zeit mitbringen. Getränke, etwas zu lesen, ein kleines Frühstück vielleicht.
Am dritten Vormittag in dieser Behörde wollte ich mein Visum - endlich - abholen. Da sagte man mir, ich würde weitere Formulare
brauchen. Mehr Unterschriften. Mehr Stempel.
Ich war genervt. Von diesen Regeln, der Stadt, von mir selbst. Ich bat den Taxifahrer früher anzuhalten und beschloss, die letzten fünfhundert Meter zu Fuß zu laufen. Ich dachte daran, was mir tags zuvor ein Freund erzählt hatte, Schams, Medizinstudent in Kabul. Er hatte eine NGO gründen wollen und für die Genehmigung 60 Unterschriften aus verschiedenen Abteilungen einsammeln müssen. Nach der 59. war sein Din-A-4-Formular voll. Da erklärte ihm ein Beamter für die letzte Unterschrift bräuchte er ein zweites Formular. Und für das Formular eine Genehmigung.
"Are you from Britain?" Ich blicke auf. Direkt neben mir steht ein Mann mit grauem Bart. Ich hatte ihn nicht
bemerkt.
Er grinst.
"Aus Deutschland", sage ich, halb trotzig, auf Dari.
"Regensburg", ruft der Mann, "kennst du das? Meine Cousine war da mal."
"Da hat meine Schwester studiert."
"Komm rein, wir trinken Tee."
Sein Laden ist keine drei Quadratmeter groß, ein schmaler Schlauch. Kleider, Schmuck, Steine, eine handvoll Bücher. Der Mann holt einen
Gaskocher und bugsiert mich auf den einzigen Hocker im Raum.
"Wie geht's dir heute?"
"So mittel. Ich versuche seit Tagen mein Visum zu bekommen. Ist ziemlich kompliziert und ..."
"Halt!", unterbricht mich der Mann. Er macht einen großen Schritt auf mich zu. "Ich sag dir was: das ganze Universum ist kompliziert.
Falls es irgendwann nicht mehr kompliziert sein sollte - dann weißt du, dass du ein reicher Mann geworden bist. Willst du Zucker in deinen Tee?"
"Nee, danke"
"Was? Ich bin Afghane, ich muss gastfreundlich sein! Wenn du keinen Zucker nimmst, schütt' ich ihn in deine
Handtasche."
"Also gut, einen Löffel."
"Erzähl mir von deiner Arbeit", sagte der Mann.
"Ich bin Journalist."
"Wirklich? Ich auch. Na sagen wir, ich schreibe. Gedichte. Hör zu:
You have beautiful eyes - so please go home!
And ask for their price."
Ich muss lachen.
"War nur Spaß. Ich sag dir ein richtiges Gedicht:
Vielleicht bin ich langsam wirklich unten angekommen.
Mein Land kämpft nicht mehr richtig
und jeder Mächtige hat nur seine eigenen Ideen im Kopf.
Unser Volk - es ist verloren."
Jetzt lacht er. Dann sagt er: "Mein Name ist Said Basir Ilmi."
Eine halbe Stunde später gehe ich nach Hause. "Wie geht's dir heute?", fragt mein Mitbewohner. Ich erzähle ihm von Said. Von meinem
Visum sage ich nichts.