Kabul, 19. Juli 2014
Weil ich einen Job habe, der mir Spaß macht, habe ich – gelegentlich – das Problem, dass ich zu viel Zeit mit ihm verbringe, vielleicht: nur noch Zeit mit ihm verbringe. Ich arbeite also zu viel, schon seit ein paar Monaten. Deshalb habe ich mir vorgenommen, jeden Tag eine halbe Stunde Pause zu machen. Mittags, wenn die Hitze am meisten drückt, schiebe ich den Ventilator neben mein Bett, Stufe 3, und schlafe. Wenn ich nicht schlafen kann, klicke ich auf Links. Dabei bin ich heute auf Newspaper Blackout gelandet, einer Seite von Austin Kleon. Der hat vor ein paar Jahren angefangen, Zeitungsartikel so lange mit Edding zu schwärzen, bis nur noch ein paar Worte übrig sind: Gedichte. „You make everyone else everyone else.“ Oder: „Spend time with friends, spend time on art, leave the nights for me.“ Oder: „I'm my own syndrome. There aren't enough psychologists in the US for me.“
Sofort hatte ich den Drang, es Austin Kleon gleich zu tun. Die Gedichte waren mir egal. Aber Worte aus Zeitungsartikeln schwärzen, ganze Zeilen, Absätze! Allein die Vorstellung war mir ein Fest. Von Redakteuren ungefragt in meine Texte hinein redigierte Wortansammlungen zogen an meinem inneren Auge vorbei. „Wodka für die Taliban“ „verwahrloste Straßenkinder“ - „Nicht stehen bleiben! Immer wieder explodieren Bomben auf Kabuls Straßen!“ - „Krieg ist für die Afghanen Alltag.“
Dann suchte ich die Artikel, die mich am meisten geärgert haben, seitdem ich hier wohne. Zuerst: „Deutsche Botschaft wegen Terrorgefahr geschlossen." Der Botschafter sei jedoch noch nicht abgereist. So zu lesen, ein paar Wochen nach meiner Ankunft in Kabul. In Wirklichkeit hatte die Botschaft für ein paar Tage den Besucherverkehr gestoppt, wegen einer Anschlagsdrohung.
Als der Text erschien, war ich gerade in Daikundi, einer abgeschiedenen Provinz im Hochland Afghanistans, in einem kleinen Dorf. Dort fragten mich die Leute, ob es denn stimme, dass nun alle Deutschen das Land verlassen würden. Sie wirkten besorgt und ich wollte sie beruhigen: „Ich hab heute morgen mit dem Botschafter telefoniert. Stimmt alles nicht“, log ich. In Wahrheit hatte ich eine E-Mail von einer Botschafts-Mitarbeiterin bekommen, wegen meines Visums. Aber das, so rechnete ich mir aus, hätte wenig Effekt gehabt auf die Sorgen der Dorfbewohner.
Ich holte einen Edding. Und schwärzte. Genugtuung. Triumph. Schadenfreude. Manchmal sind es die schlechten Gefühle, die einen glücklich machen. Übrig blieb:
Die deutsche Botschaft hat seit einigen Tagen Verkehr unterbunden. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es, das Botschaftspersonal, deutsche Diplomaten und ein Vertreter des Bundestages seien weiterhin attraktiv.
Der Titel von faz.net, der fälschlicherweise behauptet hatte, bei einem Anschlag seien mehrere Deutsche ums Leben gekommen, ließ wenig Spielraum: Mehrere Deutsche in Kabul getötet wurde zu Deutsche in Kabul. Immerhin lag das Ergebnis nun näher an der Wahrheit.
Ein Bericht auf Zeit Online von letzter Woche: Aufständische stürmen Flughafen in Kabul. In Wahrheit hatten fünf Angreifer den militärischen Teil des Flughafens von einer Baustelle AUSSERHALB des Geländes beschossen. Vier Angreifer wurden getötet, der fünfte sprengte sich selbst in die Luft. Niemand sonst starb. Niemand sonst wurde verletzt. Der Flughafen wurde nicht beschädigt. Ich zücke den Stift und tobe mich aus. Dann steht da:
Zwei Aufständische wieder deutlich zugenommen – mitten in dem für Muslime heiligen Fastenmonat Ramadan.
Jetzt das Meisterstück: Ein dreieinhalb-seitiger Artikel im Spiegel, darüber, wie der Norden Afghanistans angeblich auseinanderfalle. Überschrift: „Wie einst in Vietnam“. Kundus wird als „todgeweihte Stadt“ beschrieben. Es folgt keine Erklärung, warum. Belege dafür, dass die Deutschen Afghanistan nichts gebracht haben: In Kundus sind keine GIZ-Mitarbeiter anzutreffen (ein paar Wochen vor der Wahl – zu dieser Zeit waren viele Internationale außer Land; wird nicht erwähnt). Der einzige, den die Reporterin zu fassen bekommt, ist einer „mit gepflegter Bräune“ (er ist chilenischer Abstammung). Das Interview findet in einem „Kabuler Luxushotel“ statt. „Das Gebäude ist durch Betonwände abgeschottet. In die Lobby gelangt man über mehrere Sicherheitsschleusen, ein Hund schnüffelt nach Sprengstoff.“ Die Reporterin spricht von dem Hotel, in dem sie selbst wohnte.
Während ich den Text lese, durchströmt mich Vorfreude. Ich mache mich ans Werk – und bin begeistert.
Hinter der Überschrift Wie einst in Vietnam steht jetzt:Würstchen am Himmel schwebt nicht mehr. „Wir brauchen keine Aufklärung“, sagt der neue, „wir haben nackte Frauen und Geld und ein Pizza-Restaurant von Außerirdischen.“
Seite 2: Ihre Lebensform ist todgeweihte Normalität – nur ein Luftschnappen zwischen Mädchen und schlechtbezahlten Hilfspolizisten.
Seite 3: Menschenrechtsorganisationen fieseln zittrig an einer Zigarette. Nachts brauchen sie Luxus.
Seite 4: Deutschland soll die Presseabteilung nicht im Stich lassen.
Am Ende meiner halbstündigen Pause fühle ich mich merkwürdig erleichtert. Erholt. Im Reinen.
Ich gehe noch einmal auf Austin Kleons Seite zurück. Während ich mich durch die Gedichte klicke, wundere ich mich, warum noch kein Erpresser auf diese Idee gekommen ist. Man erkennt die Handschrift nicht. Und vor allem: der Effekt ist besser als bei lauter bunten, säuberlich ausgeschnittene Buchstaben. Ein schlauer Erpresser ist bedrohlicher als einer, der Papier-Fitzel aneinander kleben kann.
Ich klicke weiter. „look, listen.“ Ich speichere das Bild. Dann schmiede ich einen teuflischen Plan:
Der nächste Autor, der von weit weg Scheiße über Kabul schreibt, wird von mir eine Nachricht bekommen. Sie wird schwarz sein, und bedrohlich, und nur zwei Worte werden zu erkennen sein: LOOK! LISTEN!